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Die einundzwanzigste Hörhilfe 14.9.07

Thomas Chapin

Third Force
Thomas Chapin, Mario Pavone, Steve Johns

Chapin war ein Mann der Kontraste. Er brachte sein Saxophon fast zum Glühen, aber er wusste auch, dass Intensität sich verbraucht. Dann setzte er auf den Gegenschock, auf ungetrübte, naive, reine Schönheit, blies Melodien von rätselhafter, verstörender Ruhe. Nicht umsonst nannte er seine Musik „bittersweet“. Und natürlich war ihm ein einziges Horn nicht genug. Wie sein Idol Roland Kirk sorgte er ständig für instrumentale Abwechslung, spielte außer dem Altsax noch andere Saxophongrößen (darunter ein Conn-Mezzosopran in F, Baujahr 1928), eine virtuose Querflöte, exotische Instrumente wie Daumenklavier und Holzflöten, dazu Glocken, Pfeifen, allerlei Geräuschmacher. Auch stilistisch vermied er erfolgreich die Kategorien. Einerseits hatte der Mann eine bodenständige Jazz-Ausbildung genossen, war fünf Jahre lang musikalischer Direktor und Satzführer in der Swing-Big-Band von Lionel Hampton gewesen und konnte swingen wie der Teufel. Noch 1997 nannte ihn ein Kritiker den „vollendetsten Straight-Ahead-Jazzsaxophonisten seiner Generation“ und empfahl ihn als Missionar, um in Traditionalistenkreisen für die Downtown-Szene zu werben. Andererseits war Chapin durch und durch Avantgardist und Experimentator, trat mit John Zorn, Anthony Braxton und Joe Gallant auf und erforschte die Welt der Klänge „far out“. Lustvoll swingen und lustvoll den Swing zerstören: Beides gehörte zu Thomas Chapin.

Erstmals präsentierte er sein Trio im Sommer 1989 in der Gas Station, einem Club im East Village, wo er sich ein Engagement mit John Zorn teilte. Das Debütalbum des Thomas Chapin Trios (TCT) erschien zwei Jahre später, hieß „Third Force“ und enthielt die meisten der Stücke, mit denen Chapin damals für Aufsehen sorgte. Das war der neue, punkige Jazz der Knitting Factory in Reinkultur, das historische Dokument eines stilistischen Aufbruchs. Ziemlich symptomatisch für Chapins Stil ist das Stück „Iddly“, dessen Thema aus verschiedenen kurzen Motiven besteht, die eher Rock-Riffs oder Rhythm’n’Blues-Licks ähneln und in genialem Wurf aneinandergereiht sind. Bass und Schlagzeug wechseln von Motiv zu Motiv den Rhythmus, oft auch das Metrum. Diese zusammengesetzten, immer wieder überraschenden Themen sind virtuose Etüden von rockender Gewalt und wachsen manchmal zu regelrechten Miniatur-Suiten an. Später hat Chapin verraten, wie solche Motiv-Collagen zustande kamen: „Sie sind normalerweise von Ideen abgeleitet, die entstehen, wenn ich auf meinen Instrumenten übe, unter der Dusche singe, herumtanze. Die Elemente sind lose zusammengesetzt, werden in die Bandprobe eingebracht, im Detail ausgearbeitet und so weiter. Und dann frage ich: Wie machen wir daraus ein Stück? So entwickelt es sich durch Interaktion und gewinnt allmählich Form, Charakter und eigenes Leben.“ Machtvoll und schwer tönt sein Saxophon in diesen Themen, und im Soloteil wird es zum Chamäleon: Mal rockt es die Musik, dann erforscht es experimentelle Klänge und Gackerlaute oder glänzt mit der ganzen Ausdrucksskala hoher Jazzkunst. Nicht weniger beeindruckend klingt Chapins Flötenspiel, etwa im Medium-Swinger „Poet O Of Central Park“. Begleitet von Walkbass und Jazzbesen erkundet die Flöte hier mit Bop-Spirit und massivem Ton die Jazzsprache der Intervalle. So viel freie Autorität auf der Flöte hatte man seit Eric Dolphy und Roland Kirk nicht mehr gehört. Von da an ging Thomas Chapin jedes Jahr auf Europatour.

Veröffentlicht in Image Hifi 3/2003


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