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Die sechsundzwanzigste Hörhilfe 13.12.07

Player Piano 4
Piano Music without Limits (2007)

Original Compositions of the 1920s

Werke von Strawinsky, Hindemith, Haass, Toch, Münch, Lopatnikoff, Casella, Malipiero, Duchamp, Antheil

Bösendorfer-Flügel mit Player-Piano-Mechanik von Ampico (1927). Einrichtung: Jürgen Hocker

Was im 19. Jahrhundert der Salonpianist war, leisteten im frühen 20. Jahrhundert das Grammofon und das Radio. In einer Übergangsphase jedoch gab es das mechanische Klavier oder Pianola oder Player Piano: Da mussten zwar noch Klaviertasten bewegt werden, aber das machte bereits die Maschine. Wer sich damals die neuesten Schlager oder die Klassik-Evergreens ins Wohnzimmer holen wollte, kaufte sich Klavierrollen fürs Pianola. Große Pianisten spielten beim Hersteller direkt „auf Lochkarte“ und dokumentierten so auch ihren individuellen Stil für die Ewigkeit. Die ersten Aufnahmen der frühen Jazzpianisten – Jelly Roll Morton, James P. Johnson – waren noch Klavierwalzen.

In den 1920er Jahren machten sich fortgeschrittene Ragtime-Komponisten wie Zez Confrey die technischen Möglichkeiten des Player Pianos zunutze und frisierten ihre Stücke so auf, dass menschliche Pianisten sie allenfalls noch mit 14 Fingern oder dreihändig hätten realisieren können. Bald dämmerte es auch der Avantgarde, dass das mechanische Klavier mehr sein könnte als ein nettes Spielzeug: nämlich eine neue Dimension in der Klaviersprache, die auch komplexeste tonale und rhythmische Schichtungen erlaubt. Henry Cowell formulierte diese Einsicht in seinem Buch „New Musical Resources“ (1930), Paul Hindemith initiierte 1926 und 1927 in Donaueschingen sogar einen Schwerpunkt „Mechanische Musik“. Die Möglichkeiten des Pianolas konsequent ausgelotet hat dann allerdings nur Conlon Nancarrow.

Die hier gesammelten Kompositionen für Pianola entstanden zwischen 1917 und 1927 in Zusammenarbeit mit Klavierfirmen wie Aeolian und Welte. Manche der Stücke wurden noch traditionell komponiert (Strawinsky brauchte für seine „Étude pour Pianola“ sechs Notensysteme) und dann auf Lochstreifen übertragen. Andere übersprangen die Hürde der Notation und wurden direkt in die Klavierrolle gestanzt – mit allen Freiheiten, die ein mechanisches Klavier erlaubt: mit Akkordballungen, die ein menschlicher Interpret längst nicht mehr greifen kann; mit irrwitzigen Tempi, die an eine zu schnell abgespielte Schallplatte denken lassen; mit simultanen oder schwankenden Geschwindigkeiten, die handtechnisch nur unpräzise zu meistern sind. Manche Komponisten ließen sich auch direkt von den grafischen Mustern inspirieren, die sich bei der Rollenstanzung ergaben. Marcel Duchamp, der Surrealist, komponierte sogar nach dem Zufallsprinzip: Das mechanische Klavier erlaubt auch das Absurde.

Während einige der Stücke durchaus noch im Rahmen herkömmlicher pianistischer Technik bleiben, wagen die besten den Sprung in eine futuristische neue Welt, die mit der uns bekannten Klavierästhetik nur noch den Instrumentalklang gemeinsam hat. Besonders der spätere Klavierprofessor Hans Haass (1897-1955), damals Aufnahmeleiter bei der Firma Welte, reizt in „Fuge“ und „Intermezzo“ das ihm bestens vertraute mechanische Medium bis an seine Grenzen aus. Die musikalische Ereignisdichte auf dieser CD übersteigt sogar zuweilen unseren Begriff des Orchestralen. Die aberwitzigen Tempi verschwimmen für das Ohr zu schwirrenden Glissandi. Dazu kommen schwindelerregende Akkordschichtungen, Zusammenklänge über mehrere Oktaven hinweg, komplexe rhythmische Widersprüche, vielstimmig irisierende Trillerhäufungen. Immer wieder wird die Inspiration des Mechanischen (Maschine) und Simultanen (Jahrmarkt), des Polyphonen (Fuge) und des Ragtime (Motorik) hörbar.

All das umschreibt eine historische Vision: die Vision einer riskanten, mathematisch präzisen, metatechnischen, transhumanen Musikästhetik. Ernst Toch nannte die mechanische Musikwunderwelt mit scheuem Respekt „etwas Eigenes, Eigentümliches“, das neben der „normalen“ Musik existiert. Und gerade der uns so vertraute Klavierklang – sonst Abbild menschlicher Anatomie – verleiht diesen entkörperlichten Hör-Abenteuern ihre abgründige, gruselige, existenzielle Faszination.

Geschrieben für hjs-jazz.de

© 2007 Hans-Jürgen Schaal

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