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Die dritte Hörhilfe 15.1.07

Attila Zoller & Jimmy Raney

„Jim And I“ (CD L&R 8002)

Ende der 70er-Jahre fanden der Perfektionist aus Kentucky und der Genialische aus Ungarn in New York zueinander. Im (inzwischen geschlossenen) Jazzclub Bradley’s, der bevorzugten Heimat intimer Duos und Trios, entwickelten und kultivierten die beiden Grauköpfe damals eine ganz eigene Art des freien Duettierens: locker verschlungene Melodielinien, die manchmal seltsam unfassbar und wundersam stimmig zwischen Abstraktion und Romantik, Ragtime und Impressionismus hin- und herwogten. Dem Gitarristen-Kenner Alexander Schmitz war das allerdings zu viel der Freidenkerei: Er hielt Sinn und Zweck dieser Musik für rätselhaft und beklagte den Mangel an „Referenzpunkten, Wegmarken, Orientierungen“. Doch wer mit anderen Ohren hört, kann hier eines der seltenen Weltwunder der Musikgeschichte entdecken.

Vom Duo Zoller/Raney entstanden drei Platten: im Studio in New York, live auf dem Deutschen Jazzfestival in Frankfurt und (zwei Tage später) live im Berliner Jazzclub Quasimodo. Das sind im Resultat nicht mehr als vierzehn Duos, denn die Live-Exkursionen wurden im Durchschnitt jeweils zehn Minuten lang. Aneinander gereiht auf der 1995 erschienenen Doppel-CD „Jim And I“, beschreiben diese Zwei-Gitarren-Preziosen einen extrem spannenden Weg ins Unbekannte – von Raneys Kanon-Fuge „Hommage A Bach“ bis hin zur neutönerisch anmutenden 16-minütigen Fantasie „Ku-Damm“. Dabei stand das ganze Universum der Musik den beiden zur improvisatorischen Disposition, swingender Two-Beat neben dissonanter Textur und spontanem Kontrapunkt. Im Grunde waren da immer nur ein paar Ausgangs-Ideen – zum Beispiel eine Anmutung von „Autumn Leaves“, das gleich drei der vierzehn Stücke inspirierte –, alles andere ergibt sich aus dem Augenblick, aus frischen Eindrücken der Stadt, in der man sich gerade aufhält, des Tages, den man zusammen verbracht hat, der Stimmung gemeinsamer Gespräche und Scherze. Die ersten Stücke haben ein New-York-Flair, die letzten riechen nach dem Westberlin vor der Wende. Komposition spielte kaum eine Rolle: „Wir probten nie irgendwas, aber wir waren sicher, dass unsere Musik in jeder Situation funktionieren würde“, meinte Zoller. Sie unterhielten sich, lachten miteinander – und führten ihr Gespräch auf den Instrumenten weiter. Alle Möglichkeiten der Klangkunst warteten in ihren Köpfen.

Wer sich mit der Doppel-CD „Jim And I“ auf die musikalische Sternenreise begibt, lässt herkömmliche Jazz-Begriffe hinter sich. Kein Chorusdenken, kein Harmonieschema, sondern swingende Paul-Klee-Musik, klingende Miró-Gebilde. Hier ist Attilas sanglicher, kreatürlich expressiver Ton, dort Jimmys schlanker, metallisch glasiger. Hier Herz und Leidenschaft, dort Halt und Struktur. Hier Wurf, dort Exaktheit. Und vor beiden liegt ein unbeschriebenes Terrain: ein gegenseitiges Neu-Definieren, Aufbrechen von Sternennebeln, Umbiegen von Kometenbahnen. Dabei muss jeder jeden Ton, kaum dass er ihn spielte, wieder überdenken, die Richtung des anderen aufnehmen, die eigene zurechtrücken. Und so, wie Raneys kühl durchdachtes Beispiel in den Fünfzigern Attila Zoller ins gitarristische Abenteuer gelockt hatte, so lockte nun der Hitzkopf Zoller den alten Bebopper in die spontane Open-Form-Invention: Zwillinge, die sich auf unwiederholbare Weise ergänzten. „Was für ein großer Musiker er war... ein großer intuitiver Komponist. Im Bruchteil einer Sekunde konnte er einen Gedanken aufgreifen und spontan weiterentwickeln... Es war solch ein Vergnügen, mit ihm zu musizieren“, sagte der eine beim Tod des anderen. Aber wer von den beiden gemeint war, ist letztlich ganz egal.

Publiziert in Image Hifi Nr. 46 (Juli 2002)

© 2002, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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