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Longtrack

Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.

Haken, Visions (2011)

Von Adrian Teufelhart

Zügellos, großartig, fantastisch, unglaublich, wahnsinnig – so und ähnlich hat man diesen 22-Minuten-Song genannt. Mancher Kenner hält ihn für das Nonplusultra unter den Progmetal-Longtracks. Ein Wechselbad der Sounds und Stile, eine Grand Tour durch eine Vielzahl von Episoden, Rhythmen und Stimmungen. „Visions“ ist der Titelsong des zweiten Albums der britischen Band Haken, ist Ursprung und Abschluss des Albumkonzepts. „Der Song beruht auf der Vision meines eigenen Todes“, erzählt der Bandsänger Ross Jennings. „Der Text des Songs war der erste, den ich fürs Album schrieb. Der Rest des Albums entstand darum herum. Der Song schien uns aber als Startpunkt ungeeignet.“ Also packte ihn die Band nicht an den Anfang, sondern ans Ende der CD. Richard Henshall hat die komplette Musik komponiert, meistens auf der Gitarre. Das Arrangement entwickelte sich dann im Kollektiv: „Jeder nahm seinen Part in Ruhe bei sich zu Hause auf, im privaten Mini-Studio. Nur der Drummer spielte am Ende im großen Studio. Er hatte den ganzen Stress.“

Der Anfang klingt sinfonisch, mysteriös, auch pathetisch. Echte Streicher sind beteiligt und diverse Sprechstimmen, ein Synthesizer-Thema und eine Gitarrenriff-Melodie setzen motivische Signale, die später immer wiederkehren. Kurz vor der Drei-Minuten-Marke beginnt der Gesang – rhythmisch einfach, aber mit raffinierten Intervallen. Ross Jennings zeigt seine stimmliche Bandbreite zwischen weich und hart, hoch und tief. Jede Strophe wird anders begleitet. Alle späteren Vokalparts des Stücks sind aus dieser Melodie entwickelt.

Bei 6:32 startet die erste größere Instrumental-Episode, ein typischer Fall von progressiv verzinkter Frickelei (herrlich!). Ein furioser Abschnitt in 5/8- und 4/8-Takten mit Improvisationen von Gitarre und Synthesizer, dazu eingestreute Passagen, die an Jazz und Orient denken lassen. Erst bei 9:05 setzt Beruhigung ein („Faces become strangely deceiving“) – aber der nächste Höhepunkt wartet schon: Es ist ein fröhlich-abgründiger Shuffle-Marsch im Music-Hall-Stil, wobei der Gesang („Now I see the shadow of a man“) eine ironische Note bekommt. Vielleicht eine kleine Verbeugung vor den skurrilsten Momenten der frühen Genesis und Queen?

Dann: der lyrisch-balladenhafte Teil, ab 12:25 mit akustischer Gitarre und ab 13:40 mit dem einzigen längeren E-Gitarren-Solo des ganzen Tracks – eine wunderbar relaxte Improvisation im Balladentempo. Und das Kontrastprogramm setzt sich fort. Ab 15:23 darf man eine weitere Spezialität der Band genießen: gesangliche Schichtungen, dazu schräge, klingelnde und knarrende Sounds – eine Bizarrerie à la Gentle Giant auf der Basis eines Vokal-Ostinatos in sieben Achteln („I bet you don’t remember me“). Danach (ab 16:52) gibt es noch ein sehr komplexes Metal-Riff als Überleitung zur großen Reprise.

Weil’s so schön war, will das Stück dann gar nicht mehr aufhören – es folgen noch ein paar Nachspiele, auch mit Streichquartett. So viel Action muss eben gründlich ausatmen können.

Erschienen in: Fidelity 41 (2019)
© 2017, 2019 Hans-Jürgen Schaal


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