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Longtrack

Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.

The Mars Volta, L'Via L'Viaquez (2005)

Von Adrian Teufelhart

Sie gewannen einen Grammy und wurden 2008 zur Prog-Metal-Band des Jahres gewählt. Der Name der Formation (etwa: Die Mars-Umkehr) sollte die kreative Beziehung zwischen den beiden Bandleadern umschreiben, die sämtliche Stücke gemeinsam schufen – der eine die instrumentalen Parts, der andere die Gesangsmelodien und Texte (teils englisch, teils spanisch). Dieser duale Kreativprozess brachte eine einzigartige Musikmischung hervor. Es ist ein Cocktail aus Rock, Fusion, Latin, Psychedelik und betörenden Melodien – ein ziemlich gewaltiger Hexenkessel entfesselter Sounds. Die Versuche, den Mars-Volta-Stil zu beschreiben, reichten von „Psycho-Jazz“ bis „Future-Punk“. 2013 löste sich die Band auf. Die beiden Bandleader, Omar Rodriguez Lopez (Gitarre, Instrumentalkomposition) und Cedric Bixler Zavala (Gesang, Melodien, Texte), arbeiten aber weiterhin zusammen.

„Frances The Mute“, das zweite Studiowerk von The Mars Volta, könnte man ein Konzeptalbum nennen. Auf jeden Fall ist es ein Tribut an den Studiotechniker Jeremy Ward, der 2003 an einer Überdosis Heroin gestorben war. Ward hatte angeblich irgendwann in einem gebrauchten Auto das Tagebuch eines jungen Mannes gefunden, in dem er häufig las. Der Tagebuchschreiber erzählt von seiner Suche nach seinen leiblichen Eltern – seine richtige Mutter hatte ihn zur Adoption freigegeben. Diese Geschichte soll sämtliche Songtexte des Albums „Frances The Mute“ inspiriert haben. Der junge Mann heißt hier Vismund Cygnus, seine Mutter: Frances, die Großmutter: Miranda, die Tante: „l’Via“.

„L’Via L’Viaquez“ ist das zentrale Stück des Albums. Trotz einer Länge von 12’22’’ ist es der zweitkürzeste (!) der fünf Titel. Seine unvergessliche Wirkung beruht auf dem Wechsel zwischen kraftvollen, schnellen Rock-Strophen und sanften, langsameren Latin-Beat-Refrains. Die Strophen werden auf Spanisch gesungen („L’Via, hija de Miranda“), die Refrains dagegen auf Englisch („Blackmailed she fell off every mountain“). Die rockenden Parts sind von aggressiven Gitarrenläufen umrahmt – hier soliert John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers. In den Latin-Refrains bleiben die Gitarrensounds dagegen schlierenhaft-psychedelisch im Hintergrund. In einem kurzen Mittelteil (5:52 bis 7:12) gibt es eine rockende Steigerung mit Gitarrensolo und einer neuen Gesangsmelodie.

Nach dem letzten Latin-Refrain (bei 8:40) beginnt ein Improvisations-Teil, Salsa-Klavier und Rock-Gitarre wechseln sich dabei ab, der Beat bleibt afro-kubanisch. Der Klaviersolist ist der (damals) 65-jährige Larry Harlow, eine echte Latin-Legende. Auf der Gitarre soliert Bandleader Omar Rodriguez-Lopez. Ab 10:50 wird das Stück ausgeblendet und mündet in eine psychedelische Wort/Klang-Collage. Solchen verstörenden Sound-, Geräusch- und Spracheffekten verdankt die Musik von The Mars Volta ihre ganz besondere Atmosphäre.

Erschienen in: Fidelity 44 (2019)
© 2019, 2023 Hans-Jürgen Schaal


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