Rockidelity
Haken: The Mountain (2013)
Von Adrian Teufelhart
Die Klassiker kamen aus Wien, die Romantiker aus Deutschland, die Impressionisten aus Frankreich. Aus England kam nur die Blockflöte. Von bösen Zungen mussten sich die Engländer sogar lange Zeit sagen lassen, sie seien ein unmusikalisches Volk. Doch irgendwann schlug ihre Stunde – mit den Beatles und den Stones, mit Cream, Led Zeppelin, The Who, Deep Purple, Pink Floyd, Procol Harum, Black Sabbath, Ten Years After, Fleetwood Mac, Jethro Tull, Yes, King Crimson, Colosseum, Uriah Heep, ELP, Queen, Genesis, Wishbone Ash, Gentle Giant, Mike Oldfield, Supertramp, Dire Straits... Seitdem ist der musikalische Strom von der Insel nie mehr versiegt.
2007 kamen Haken dazu. Der Bandname klingt zwar deutsch, soll aber in einem englischen Pub entstanden sein nach dem vierten Pint. Angeblich erfuhren die Musiker erst später, dass ihr Fantasiewort im Deutschen etwas bedeutet. Oder auch im Niederländischen. Sie selbst sprechen es „hejkn“ aus. Reimt sich auf „bacon“.
„The Mountain“ ist ihr drittes Album: Retro-Prog mit Metal-Elementen. Man kennt das so ähnlich von etlichen Bands zwischen Kalifornien und Finnland. Haken klingen vielleicht etwas charmanter manchmal – das liegt vor allem an Ross Jennings, dem Sänger mit der jungen, weichen, sehr flexiblen Stimme. Melodien über zwei Oktaven – der kann das, der darf das! Manchmal tönt’s auch ein bisschen pathetisch, feierlich, fast kitschig. Aber vielleicht braucht das Ohr das als Ausgleich, denn hier ist eine Menge los.
Die sechs Jungs aus London lieben Gentle Giant und King Crimson. Und sie haben wohl auch Mr. Bungle, Spock’s Beard und etwas Jazz gehört. An Gentle Giant jedenfalls erinnern nicht nur die polyphonen A-cappella-Gesänge, sondern auch die repetitiven Figuren, der bizarre Klangfarbenmix, die virtuosen Wechsel und Umbrüche. Was hier an Ideen in manchen kurzen Zwischenteil gesteckt wurde, würde anderen Bands für ein ganzes Album reichen. Man höre sich Passagen an in „Atlas Stone“ (2:23 bis 3:18), „Cockroach King“ (3:58 bis 6:09), „In Memoriam“ (2:23 bis 2:48), „Falling Back To Earth“ (2:37 bis 4:40) oder „Pareidolia“ (3:32 bis 4:40). Bei so vielen Skurrilitäten und Verrücktheiten ist überhaupt kein Platz mehr für ausladende Soli. Also keine Angst vor Ego-Trips, es gibt keine! Dafür rockt das Sextett als Team unwiderstehlich, und das über weite Strecken auch in ungeraden Metren, vorzugsweise fünf Vierteln. So etwas ist den Klassikern aus Wien niemals eingefallen.
Erschienen in: Fidelity 10 (2013)
© 2013, 2023 Hans-Jürgen Schaal
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