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Ein Leben auf dem Hochseil
Anita O'Day wird 80 Jahre alt
(1999)

Von Hans-Jürgen Schaal

Ihr Auftritt beim Newport Jazz Festival von 1958 ist Legende. Der dort gedrehte Dokumentarfilm "Jazz on a Summer's Day" zeigt sie, damals Ende 30, im ärmellosen Kleid, weiß behandschuht, einen gewaltigen, mit Federn besetzten Hut überm sommersprossigen Gesicht. Die schlanke First Lady des kühlen Jazz, leicht manieriert und in unbedingter Weise modern, singt "Sweet Georgia Brown" und "Tea For Two", zwei der ältesten und elementarsten Standards des Jazz, und stilisiert sie zu raffiniert-modernen Etüden. Marionettenartig wirft sie die Arme, vogelähnlich bewegt sie den Kopf, scattet mit Nonchalance. Bei Anita O'Day wird der Broadway-Song zum Gesamtkunstwerk.

Vieles an dieser Frau fasziniert: die erotisch heisere Stimme, der exzentrische Habitus, die visuelle Selbststilisierung, die Mischung aus Verruchtheit und Naivität. Am meisten jedoch fasziniert ihr musikalisches Können. Wie die O'Day die Worte dehnt und rafft, wie sie Phrasen in Silben auflöst und weglutscht, die Vokale um die Ecke lacht, gegen den Beat ansingt und dabei immer melodisch bleibt, immer die Swing-Sängerin: Das ist unübertroffen. Sie liebt Rhythmus-Wechsel, Uptempo-Litaneien, Scat-Schikanen und schleppende Worksong-Tempi. Sie liebt es, Songs und Stimmungen zu vermischen, den Zuhörer zu verwirren, sich selbst zu überraschen. Ihr Timing gehört zu den heiligsten Jazz-Mirakeln, ihre rhythmische Sicherheit versagt auch auf den gewagtesten Abwegen nicht. Den Typ "weiße intellektuelle Jazz-Sängerin" hat sie ganz allein entwickelt, all die anderen stehen da in ihrer Schuld: Chris Connor, June Christy, Helen Merrill, Annie Ross.

Dass Anita O'Days "Sophistication" keine oberflächliche Attitüde ist, merkt jeder. In dieser Frau steckt Kunst- und Lebenserfahrung, hinter ihr liegt ein nicht ganz schmerzloser Weg durch die Realitäten der Jazzwelt. Die O'Day hieß noch Anita Belle Colton und war ein Teenager, als sie schon durch die Kneipen ihrer Heimatstadt Chicago tingelte. Sie arbeitete als singende Kellnerin, nahm an Marathon-Tanzwettbewerben teil und hatte den Mut, ungebeten zu den Jazzbands auf die Bühne zu klettern. In den 40er Jahren machte ihr Talent sie zur Orchester-Vokalistin bei Gene Krupa und Stan Kenton. Dort landete sie beachtliche Hits mit "Let Me Off Uptown" (1942) und "And Her Tears Flowed Like Wine" (1944).

Nach dem Ende der Big Bands kam der Abstieg in die Nachtklubs, ins Heroin, ins Gefängnis. Viele Jazzmusiker haben sich von einem solchen Fall nie mehr erholt. Doch Anita O'Day kämpfte sich zurück und machte ab 1955 eine ganze Reihe raffinierter, hörbar abgeklärter Platten für Verve, darunter "Anita Sings The Most" (mit Oscar Peterson) und "Cool Heat" (mit Arrangements von Jimmy Giuffre). Ihre Film-Auftritte in "Jazz on a Summer's Day" und "The Gene Krupa Story" markierten ein sensationelles Comeback. Und mehr als das: Eine gute Swing-Sängerin war zu einer exzeptionellen Song-Gestalterin geworden. 1993 machte sie ihre bislang letzten Aufnahmen - für die CD "Rules Of The Road" (mit Arrangements von Buddy Bregman, dessen Orchester sie schon in den 50er Jahren begleitete).

Eine Kämpferin ist Anita O'Day immer gewesen: stur, eigenwillig, unangepasst. Schon bei Krupa weigerte sie sich, ins adrette Girl-Show-Kostüm zu schlüpfen: Es erschien ihr unwürdig. Die O'Day musste nie die starke Frau markieren, sie behauptete sich ganz einfach. Es hieß über sie: "Sie sagt, was sie denkt. Sie trägt, was ihr gefällt. Sie benimmt sich so, wie sie sich am liebsten benimmt." Auch als Künstlerin konnte sie provozieren, denn sie suchte das Risiko und die Innovation - eine weiße Schwester Betty Carters. Anita O'Day hatte auch nie Probleme damit, über die dunkle Seite ihres Lebens mit drastischer Offenheit zu sprechen. Für alle nachzulesen: ihre Autobiographie von 1981.

Am liebsten sieht sich Anita O'Day als Song-Stilistin. Einen Song so zu singen, wie man es erwartet, interessiert sie am wenigsten. Ihre hohe Kunst der Verfremdung bewährt sich vielmehr im Unkonventionellen: in ungewohnten Tempi, gebrochenen Formen, gestauchten Melodien und zerstoßenen Wörtern. Ihre Songs sind persönliche Dokumente, ein bisschen Chanson, ein bisschen Klang gewordenes Action Painting. Modernistisch und gefühlvoll und immer auf dem swingenden Hochseil des Ungeprobten. Schön, dass man auch ohne Sicherheitsnetz 80 Jahre alt werden kann. Und hoffentlich bei bester Gesundheit. Happy O'Day!

© 1999, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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