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Kulturnischen brauchen Sponsoren und Kapitalfirmen brauchen ein künstlerisches Prestige. Wenn aber eine Organisation, die sich vornehmlich mit Finanzierungsgeschäften für die Flugzeugindustrie befasst, plötzlich ein Label für Avantgarde-Musik gründet, dann steckt mehr dahinter. Zum Beispiel ein künstlerischer Kopf. Paul Steinhardt, Chef der DSF (Deutsche Structured Finance) in der Banken-Metropole Frankfurt am Main, ist ein Liebhaber anspruchsvoller Musik, insbesondere aber ein Fan von Franz Koglmann, dem eigenwilligen Wiener Komponisten und Trompeter. Dessen melancholischer Kammer-Jazz verstört seit Jahren die Jazz- wie die E-Musik-Hörer gleichermaßen - und besitzt eine unbezwingbare Faszination für alle, die im weiten Feld zwischen Swingbeat und Sonatenform nach neuen Nervenabenteuern suchen. In Koglmanns Klangstrukturen reflektiert sich der in die Jahre gekommene Jazz als intelligente Spielform.

Ein Strom zwischen zwei Linien
Das Frankfurter Label "Between The Lines" – Herbstblüte des Jazz
(2000)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als es eine Zeit lang nichts Neues von Koglmann zu hören gab (seine letzte CD auf Hat Hut erschien 1995), machte sich sein finanzstarker Frankfurter Fan ernste Sorgen. So wienerisch traurig schien Koglmanns Musik zuweilen, dass man das Schlimmste befürchten musste. Doch eine Kontaktaufnahme mit der Donaumetropole beruhigte Steinhardt und brachte ihn auf eine ganz absurde, verblüffende, wunderbare Idee: Er präsentierte seinen Geschäftspartnern zum Abschluss eines Finanzkonvents ein Avantgarde-Konzert im Frankfurter Südbahnhof. Einer der Künstler: Franz Koglmann. Das Motto: "Between the Lines - Zwischen Jazz und Europäischer Moderne". Der Termin: 26. November 1998.

Das Konzert war kaum verklungen, da stand der Vorschlag schon im Raum: Wir machen ein Label zusammen. Die DSF finanziert und der Franz Koglmann wird künstlerischer Leiter. Eine Frankfurt-Vienna-Connection. Was klingt wie der Fiebertraum eines frustrierten Kulturreferenten wurde traumhafte Wirklichkeit: Das Label "Between The Lines" war geboren. Acht CDs liegen mittlerweile vor, acht CDs im gar nicht grauen Grenzfeld zwischen Jazz und Neuer Musik, acht CDs voll filigraner und reflexiver, konstruktiver und gebrochener, lustvoller und analytischer Geschehnisse für Hörer mit Herz und Hirn. Da gibt es experimentelle Konzert-Duette von namhaften Jazzmusikern: Enrico Rava mit Ran Blake, Tony Coe mit Roger Kellaway. Da trifft man Veteranen der schwarzen amerikanischen Jazz-Avantgarde neben einer minimalistisch inspirierten Ensemblemusik aus der Schweiz oder einer modernen Auseinandersetzung mit dem Wiener Walzerkönig Johann Strauß. Auf dem Feld des Nicht-Definierten wächst eine üppige, vielfältige Klangflora.

Und doch hat der Fluss zwischen den Linien längst einen Namen: Third Stream. Mit diesem Begriff beschrieb der amerikanische Komponist und Musikhistoriker Gunther Schuller 1957 ein musikalisches Konzept, das die Konfrontation des Jazz mit der Klassik und umgekehrt fordert. Steinhardt und Koglmann denken ganz ähnlich: Sie sehen ihr Label als Plattform für Musiker, "die den Anspruch haben, durch die Integration unterschiedlicher musikalischer Traditionen etwas Neues, Drittes zu schaffen". Die Brücke zum Third Stream alter Schule schlägt ein Musiker wie Ran Blake: Der Pianist, ehemals Schullers Student und schon in den späten 50er Jahren ein wichtiger Third-Stream-Theoretiker, findet sich nicht umsonst auf Between The Lines wieder.

Warum, so fragt der Wiener Trompeten-Philosoph Koglmann, sollen Jazzmusiker die Errungenschaften der westlichen Kunstmusik einfach über Bord werfen? Und längst ist der Gedankenaustausch zwischen Kammer-Jazz und europäischer Moderne keine Einbahnstraße mehr. Auch für viele junge Komponisten und Instrumentalisten im klassischen Konzertbetrieb sind Stilmittel des Jazz heute selbstverständlich geworden. Sie diffundieren in alle Bereiche, auch in die DJ-Kultur. Koglmann, der Melancholiker, sieht darin eine Art "Herbstblüte" des Jazz: die anmutig morbide Auflösung einer swingenden Botschaft, die in New Orleans zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch jung und revolutionär war. Möge der Herbst zwischen den Linien noch lange strömen.

© 2000, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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