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Seine Musik klang in Kritikerohren 1945 noch falsch und albern. Doch Charlie Parkers Bebop war der Beginn des modernen Jazz und sollte Melodik, Harmonik, Virtuosität und die Rollen aller Instrumente im Jazz neu definieren. Bird spielte nicht nur Bebop, er lebte ihn und verbrannte in ihm: ein Märtyrer seiner Musik, dessen Errungenschaften heute - 45 Jahre nach seinem Tod - den alltäglichen Mainstream des Jazz ausmachen. Am 29. August 2000 wäre Charlie Parker 80 Jahre alt geworden.

Charlie Parker
Der Erfinder des modernen Jazz
(2000)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die Studio-Aufnahmen am 26. November 1945 waren typisch für ihn, den tragischen Helden des Bebop: eine Mischung aus Katastrophe und Triumph. Zwei Pianisten fielen ganz oder teilweise aus, Trompeter Dizzy Gillespie war vertraglich anderswo gebunden, Bandleader Parker selbst kam zu spät und hatte dann auch noch Probleme mit seinem Rico-Blättchen. Ein 19-jähriger Juilliard-Student namens Miles Davis musste also den Trompeten-Part übernehmen, Dizzy half (incognito) hauptsächlich als Pianist aus, dann kamen Drogen und Mädchen ins Spiel, und alles ging drunter und drüber. Titel der Veranstaltung: "Die größte Aufnahme-Session in der Geschichte des modernen Jazz" - so die Werbung der Plattenfirma Savoy. Parker-Biograph Ross Russell spricht von der "definitiven Session, zu der der Bop hingestrebt hatte".

Es war die erste Studio-Session unter Charlie Parkers Namen. Davor war der größte Revolutionär des Jazz auf Platten nur als Sideman zu hören gewesen, zum Beispiel in Jay McShanns "Hootie Blues". Sein 12-taktiges Altsolo zwischen Ensemble-Teil und Gesang wirkte auf dieser B-Seite von 1942 noch wie ein bizarres U-Boot, gestrandet mitten in der Sierra Nevada: fremdartig, faszinierend, hochkomplex und unbegreiflich. Wenn McShanns Band im Radio spielte, rätselten die Hörer: Wer konnte auf dem Saxofon so schnell und gleichzeitig so logisch improvisieren? Wenn die Band im New Yorker Savoy Ballroom auftrat, strömten die Musiker scharenweise in die Konzerte, um diesen Charlie Parker auszuchecken.

Man war sich einig: Der 21-Jährige aus Kansas City spielte wie Lester Young - nur eben auf dem Altsaxofon und doppelt so schnell und harmonisch völlig rätselhaft. Seit Jahren schon hatte er diesen eigenen Ton, fernab der süßlichen Swing-Altisten, sachlich, klar, mit wenig Vibrato, und sein Ziel war es offenbar, schnellere Läufe hinzukriegen als Art Tatum am Klavier. Dieser Parker besaß die Statur eines kräftigen Arbeiters und schwere, trainierte Hände, eine gewaltige Lungenkraft und die flinken Finger eines Trickzauberers. Er konnte auf jedem Saxofon, das ihm irgendwer lieh, sofort loslegen und übertönte mühelos jede Big Band. Jeder seiner Chorusse klang so prägnant und geschlossen, als wäre er ausgearbeitet und geübt. Er meisterte schwierige Arrangements auswendig und neue Solo-Partien ohne zu proben.

Im Sommer 1942 beschloss Parker, McShanns Band zu verlassen und in New York zu bleiben. Gleichzeitig begann der Recording Ban der Musikergewerkschaft AFM, der bis Ende 1944 Plattenaufnahmen untersagen sollte. Dadurch vollzog sich die Geburt des modernen Jazz nahezu undokumentiert - beinahe wie in einem Weltraum-Laboratorium ohne Funkkontakt zum Planeten Erde. Das Spacelab hieß Minton's Playhouse und war über Harlem hinaus für seine schwarze Soul-Food-Küche bekannt - mit traditionellen Südstaaten-Köstlichkeiten wie Barbecued Ribs, Fried Chicken, Sweet Potatoes oder Red Beans & Rice. Der Drummer Kenny Clarke leitete dort die Hausband, am Klavier saß ein gewisser Thelonious Monk, und die Jazz-Prominenz ging ein und aus, ließ sich das Essen schmecken, lieferte sich große Schlachten auf der Bühne und probierte Neues aus. "Um 1943 war jeder am Experimentieren", erinnert sich Tony Scott, "aber noch niemand hatte einen festen Stil. Es war Bird, der die Dinge ins Rollen brachte." Und Minton's Forschungsleiter "Klook" Clarke bestätigt: "Bird ging denselben Weg wie wir, aber er war uns weit voraus."

Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Kenny Clarke: Das war die Urzelle des Bebop. Minton's Hausband wurde zur Szene-Clique mit eigenem Slang, behandelte ihre Entdeckungen bald wie eine Geheimwissenschaft und machte Unbefugten den Zugang - sprich: das Einsteigen und Jammen - schwer. Man spielte die Jazz-Standards mit erweiterten Akkordfolgen, mischte die Changes verschiedener Stücke miteinander oder schrieb komplizierte Riffs und Bop-Themen über das Gerüst der alten Songs. Aus "Cherokee" machte Bird sein "Ko Ko", aus "Honeysuckle Rose" entstand "Marmaduke", aus "Embraceable You" wurde "Quasimodo". Über die Harmonien von "I Got Rhythm" (die so genannten "Rhythm Changes") schrieb er ein ganzes Dutzend Kompositionen, über den Blues erfand er Themen und Improvisationen ohne Ende.

Überhaupt der Blues: Ihm gab Bird sein zeitgemäßes, sein modernes Gesicht. Der Blues erinnerte ihn an seine Herkunft aus Kansas City, wo er jede Nacht Lester Young zugehört hatte, der liebevoll wie kein anderer den Saxofonton modellieren konnte. Parker war ein Produkt der schwarzen Musikkultur von Kansas City, in der große Blues-Sänger wie Big Joe Turner und Jimmy Rushing gediehen, aber auch eine ganze Schule von Saxofonisten einander Wettkämpfe lieferten. Das Kansas City der 30er Jahre war ein Eldorado der Vergnügung, eine giftige Blüte mitten in der Wüste von Prohibition und Depression. In KC nämlich regierte die Illegalität, geduldet von einem korrupten Bürgermeister, und die vitale Nachtklubszene zog Musiker aus dem ganzen Südwesten der USA an. In KC wurde Tag und Nacht gejammt und mehr als einmal hat sich der junge Parker blamiert, als er zu früh die Herausforderung suchte. Natürlich spielte er damals nur nach dem Gehör und hatte mit 14 noch keine Ahnung, dass es so etwas wie Tonarten gibt. Als er es erfuhr, lernte er "Cherokee" und "I Got Rhythm" auf allen zwölf Grundtönen zu spielen und hörte nie mehr auf, die Älteren zu löchern und zu belauern. Mit 16 war er Berufsmusiker, Gewerkschaftsmitglied, Ehemann, werdender Vater, von der Schule geflogen und mit Drogen vertraut.

Vielleicht hat es mit seinem besonderen Weg zur Tonalität zu tun, dass ihn Modulationen ins Grübeln brachten. Bald experimentierte Parker mit alternativen Akkordwechseln und zusätzlichen Durchgangs-Harmonien, er übte sich aber auch in komplexerer Rhythmik und verdoppeltem Tempo. "Viele konnten mit dem, was er machte, nichts anfangen, aber es war harmonisch sinnvoll und swingte immer", bestätigte sein früher Arbeitgeber Jay McShann. Irgendwann kam Parker auf die Idee, die Akkorde weiterzudenken, über die 5. oder 7. Stufe der Tonleiter hinaus, und aus den Tönen der 9., 11. oder 13. Stufe neue Melodien zu basteln. Daraus wurde der Bebop, der erste moderne Jazz-Stil - in der Harmonie komplex, im Tempo rasant, in der Melodik gekennzeichnet durch große, nervöse Intervalle ("be-bop"). Charlie Parker brachte den Intellekt in die Improvisation und machte aus dem Tanzvergnügen Jazz eine swingende Klangkunst zum Zuhören.

Die Ablehnung der Kritiker war zunächst ebenso schroff wie später beim Free Jazz: Bebop galt als Anti-Jazz, eine Art chinesischer Musik, eine Absurdität. Das hat nicht gerade dazu beigetragen, Parkers Existenz in geregelte Bahnen zu bringen. Birds Genie floss in die Musik, über den Rest seines Lebens hatte er keine Kontrolle. Bis zum Ende lebte er den Blues des heimatlosen, getriebenen Künstlers. Hatte Probleme mit Plattenverträgen und Veranstaltern, hielt seine Termine selten ein, kam mit Behörden und Gewerkschaften in Konflikt, schrieb seine Stücke nicht auf, kümmerte sich nicht um sein Urheberrecht und verschenkte damit viel Geld. Sein Heroin-Konsum nahm unglaubliche Ausmaße an, dämpfte aber keineswegs seinen Appetit auf Essen, Alkohol und Frauen. In späteren Jahren "behandelte" er mit Heroin auch seine Magen- und Herzbeschwerden und fühlte sich ohne die Droge uninspiriert und betäubt, aggressiv und reizbar, war nicht mehr er selbst. Geld besaß er nie: Er pumpte jeden an, musste sich Instrumente von Kollegen leihen, brachte sie dann ins Pfandhaus, vermachte einmal sogar die Hälfte seiner Tantiemen an seinen Dealer.

Parkers Leben war Chaos: Psychiatrische Abteilungen und Entzugsanstalten lernte er kennen, es wurden ihm Schizophrenie und Psychosen attestiert, er beging Brandstiftung und einen Selbstmordversuch und führte illegale Ehen. Immer wieder fand er Freunde, Frauen, Kollegen, Verehrer, die ihn aufnahmen, aufrichteten, durchfütterten. Von McShann zur Rede gestellt, warum er in vernachlässigter Kleidung auftauchte, sagte er: "Wäre es dir lieber, wenn ich wie ein Doktor gekleidet käme - und wie ein Doktor spielte?" Bird lebte seine Musik - er lebte sie ganz und ausschließlich. Wurde zum mythischen Urheber der großen Jazz-Revolution, zum charismatischen Untergrund-Helden, der nie den Sprung ins Establishment schaffte. Mancher Beatnik und Hipster verehrte Parkers praktizierten Existenzialismus wie eine göttliche Offenbarung. Der Sänger King Pleasure musste kein Hellseher sein, als er zu Birds Ballade "Parker's Mood" einen Text schrieb, der Parkers Begräbnis antizipierte. Der Song wurde 1954 zum Hit. Im Jahr darauf starb Charlie Parker - an Magendurchbruch und Herzversagen und Leberzirrhose und Lungenentzündung und Genialität und künstlerischer Vision und am Leben selbst. Er wurde 34 Jahre alt.

Bird hat noch den Cool Jazz erlebt, Miles' Capitol-Orchester, Tristano, Brubeck, das Modern Jazz Quartet, die Annäherung an größere kompositorische Formen. In diese Richtung hätte er gehen wollen, hätte er seine Visionen führen müssen, wenn er sein Leben im Griff gehabt hätte. Parker, der "aus dem Blues mehr Nummern machen" konnte als irgendwer sonst (so formulierte es der Trompeter Howard McGhee), bewunderte Hindemith, Debussy und Ravel. Der Name eines der bekanntesten Parker-Stücke, "Yardbird Suite", spielt auf Strawinskys Feuervogel-Suite an. Einmal wollte Bird bei Stefan Wolpe ein Solokonzert bestellen und Edgard Varese sagte ihm Kompositions-Unterricht zu. Bird wollte eine Sinfonie schreiben oder eine Oper. Das war im Frühjahr 1955. "Mein Kopf ist zu groß für ein Saxofon", sagte er noch.

© 2000, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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