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Gerade eben noch war er ein Geheimtip: Matthew Shipp, der große Hoffnungsträger des Avantgarde-Pianos. Shipp bricht Formen entzwei, entwickelt aus den Bruchstücken vitale Etüden, entwirft neue Trassen für die freie Improvisation. In seiner Musik verbindet er die weiträumige Ästhetik der klassischen Musik mit dem ekstatischen Ausdruckswillen des Free Jazz. Motivische Entwicklung und musikalisches Abenteuer treffen sich auf einem Weg ins Anderswo. Matthew Shipp ist die komplexe Antwort der Gegenwart auf das Avantgarde-Piano Cecil Taylors. Und immer mehr Leute entdecken diesen Innovator.

Matthew Shipp
Jazzklavier im Anderswo
(1999)

Von Hans-Jürgen Schaal

Überraschenderweise spielst du immer wieder auch "Standards" - allerdings auf deine sehr eigene Art. Warum überhaupt "Standards"?

Ich versuche dabei, aus bereits vorhandenen Strukturen neue Strukturen zu entwickeln. Die Stücke, die ich wähle, sind dafür einfach gut geeignet. Einige davon sind Ellington-Stücke - "C-Jam Blues", "A-Train", "Solitude". Ich bin einfach ein Ellington-Fan und stark beeinflußt von Ellingtons Art, Klavier zu spielen. Ich werde wohl eine ganze Serie von Ellington-Stücken aufnehmen.

Wenn man mit diesen Standards vertraut ist, kann man wahrscheinlich leichter mitverfolgen, was in deiner Musik eigentlich passiert.

Richtig. Das gibt den Leuten die Möglichkeit, meinen Stil in einem Rahmen zu hören, der ihnen geläufig ist.

Wie würdest du das beschreiben, was du mit diesen Stücken anstellst? Könnte man sagen, es ist eine Form der Analyse, der De-Konstruktion? Eine Art Neu-Strukturierung durch motivische Arbeit?

Ich glaube, was ich mache, ist folgendes: Ich gehe an die Grenzen der Re-Harmonisierung. Ich benütze den Song nur als Wegweiser. Du kannst das natürlich De-Konstruktion nennen, aber wahrscheinlich ist es einfach nur eine Art Schmelzprozeß. Ich benütze die Melodie und die Harmonien des Songs nur, um sie hinter mir zu lassen und in etwas Tieferes vorzustoßen. Die melodische Struktur ist eine Art Bezugsrahmen, der beim freien Improvisieren eine bestimmte Richtung vorgibt. Ich improvisiere ganz gewiß nicht über die Changes, aber man kann sie natürlich als harmonische Information verwenden. Oder man läßt die Melodie sich einfach organisch entwickeln. Sie ist ein Wegweiser nach Anderswo.

Ich vermute, du hast früher Standards auch in herkömmlicher Weise gespielt?

Ja, als Jugendlicher war ich so eine Art Cocktail-Pianist. Ich versuchte mich in einer Mischung aus McCoy Tyner, Bill Evans und Herbie Hancock.

Wann hast du deinen eigenen Stil entwickelt?

Das muß so um 1983 herum gewesen sein. Ich hatte jahrelang hart daran gearbeitet, bis ich so weit war.

Wie würdest du beschreiben, was in deiner Musik geschieht? Denkst du da eher in Strukturen oder vergleichst du das mit einer Reise oder einem Gemälde?

Ja, ich stelle mir eine musikalische Reise vor, aber auch ein Gemälde. Vieles ähnelt vielleicht dem, was Jackson Pollock tat: Action Painting. Ich gehe unter die Oberfläche, ich beschäftige mich mit den Harmonien. Mein Spiel entsteht an der Schnittstelle von Melodie, Bewußtsein und Raum. Eine sehr kinetische Philosophie. Aber ich bin mir immer voll bewußt über das, was geschieht.

Würdest du deine Musik "Free Jazz" nennen?

Nein. Ich nenne sie "Matthew-Shipp-Musik".

Wie sehen deine Kompositionen auf dem Papier aus?

Ganz unterschiedlich. Es gibt Noten für die Führungsstimme, die sehen aus wie einem Real Book entnommen. Manches ähnelt mehr einer klassischen Partitur. Ich habe aber auch Sachen, die bestehen nur aus graphischen Anweisungen und Worten.

Welches Verhältnis hast du zum Avantgarde-Jazz der 60er Jahre? Läßt du dich von den Platten aus dieser Zeit inspirieren?

Ich bin mit dieser Musik aufgewachsen, sie hat mich in meinen Anfängen inspiriert. Das heißt: Diese Musik ist eindeutig meine Tradition. Aber ich glaube, was ich heute mache, das ist Lichtjahre davon entfernt, es ist etwas völlig Anderes. Ich höre mir gerne Ornette an, aber ich habe seit Jahren keinen Cecil Taylor mehr gehört. Ich bleibe seiner Musik bewußt fern, weil ich sie als Heranwachsender so oft gehört habe. Zwischen dem, was wir heute machen, und dem, was die damals machten, liegen Welten.

Es heißt, du zählst Randy Weston und Andrew Hill zu deinen wichtigsten Einflüssen. Was ist das Besondere an diesen beiden?

Bei Randy ist es der afrikanische Ansatz in seinem Klavierspiel, diese afrikanische Sensibilität. Dann kommt er von Ellington und Monk her, was ich schon mal sehr mag. Und außerdem hat er so etwas Abstraktes. Gut, Andrew Hill besitzt auch diese modernistische Abstraktion in seinem Spiel, aber Randy verbindet das mit diesem "African thing". Er kommt eigentlich aus demselben Umfeld wie Cecil Taylor, hat sich aber unüberhörbar in eine völlig andere Richtung entwickelt. Bei Andrew Hill fasziniert mich der gesamte Kosmos, den er geschaffen hat, eine Post-Bop-Welt, die ihm ganz allein gehört. Und ich mag die Verwegenheit und Originalität in seinem Spiel. Und die Tatsache, daß er für das Jazzpiano der 60er Jahre eine total andere Lösung gefunden hat als Cecil Taylor.

Hast du dich je mit Mal Waldrons Musik beschäftigt?

Ich habe ihn gehört, aber nicht sehr ausgiebig. Tatsächlich sagen eine Menge Leute, sie würden in meinem Spiel Mal Waldron hören. Er hat mich nie direkt beeinflußt, aber ich wußte immer, daß es ihn gab. Wahrscheinlich habe ich doch einige seiner Spielkonzepte in mich aufgesogen.

Du arbeitest mit Saxophonisten wie David S. Ware und Roscoe Mitchell zusammen. Sind diese Bands wichtig für deine Entwicklung als Pianist?

Ja, sehr sogar. Ich lernte eine Menge von Dave und Roscoe, allerdings ganz unterschiedliche Dinge. Die Arbeit mit David Ware gehört zu meinen wichtigsten Aktivitäten überhaupt. Die David S. Ware Group ist ein Phänomen für sich. Dort habe ich die Freiheit zu orchestrieren, was die Rhythmusgruppe im Kontext der Musik eigentlich machen soll. Wir haben da eine Musik entwickelt, die auf dem individuellen Stil jedes einzelnen Bandmitglieds beruht.

Könntest du dir vorstellen, deinen eigenen Stil auch mit einer Rhythmusgruppe zu spielen, die mehr straight-ahead orientiert ist?

Ja, das könnte klappen. Doch, sehr gut sogar.

Ich weiß, daß du auch europäische Komponisten hörst, etwa Scriabin und Debussy.

Ich habe mich eine Zeit lang sehr eingehend mit klassischer Musik auseinander gesetzt. Ich habe viele Jahre lang klassische Musik gespielt. Die Komponisten, mit denen ich mich beschäftige, sind Debussy, Scriabin, Chopin, Bach, Webern. Ich habe viel Zeit auf Schönbergs "Drei Klavierstücke" (Opus 11) verwendet, aber auch auf einige Stücke von Boulez. Diese Sachen höre ich am öftesten.

Interessiert dich an der europäischen Musik mehr die Harmonik oder die Form?

Einfach das akustische Erleben. Ich interessiere mich für jede Musik, die mich bewegt. Meine musikalische Empfindung ist zwar die eines Jazzers, aber ich interessiere mich für alles, was musikalisch Sinn macht.

Könntest du dir vorstellen, über ein Debussy-Stück in ähnlicher Weise zu improvisieren, wie du es mit "Take the A-Train" machst?

Nein. Ich wüßte nicht, was ich damit improvisatorisch anfangen sollte. Ich sehe auch nicht die Notwendigkeit, auf eine andere Tradition zurückzugreifen als auf die des Jazz.

© 1999, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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