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Von der Drehorgel kennt man blechernes Karussell-Tschinderassabum oder ärmliches Hinterhofgenudel. Doch sie kann auch anders. In den Händen von Pierre Charial wird das mechanische Kurbel-Instrument zur Präzisions-Maschine, die den bizarrsten Intervallen und grellsten Clustern der Avantgarde gewachsen ist.

PIERRE CHARIAL
Emanzipation des Leierkastens
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

1.
Dass er nicht viele Worte macht, verrät schon seine Website (www.musique-mecanique.net). Ganze vier Sätze kann man dort über ihn lesen, und die nur auf Französisch. Man erfährt: Pierre Charial ist der Mann hinter „Musique Mécanique Paris“. Am Konservatorium von Lyon hat er einst Klavier, Fagott und Komposition studiert. Nachdem er einige Jahre als Lehrer und Veranstalter tätig war, begann er, Musik für mechanische Instrumente zu „notieren“: das heißt, selbst die „Software“ für Drehorgeln herzustellen. Die nämlich besteht aus gestanztem Karton, Lochstreifen, durchlöchertem Papier. So weit Charials Selbstdarstellung. Auf seiner Website geht es letztlich vor allem um diese gelochten Kartonbahnen: „Musique Mécanique Paris“ bietet Futter für Drehorgeln an, geeignet für Instrumente verschiedener Fabrikate. Für solche mit 24 Tasten stehen rund 120 Stücke zur Auswahl zum Preis von 15 bis 75 Euro. Darunter sind Evergreens wie „Lili Marleen“, „Jingle Bells“, „Let It Be“, „La Marseillaise“ oder ein Potpourri aus der „West Side Story“. Für Drehorgeln mit 27 Tasten gibt es ein noch weit größeres Repertoire: Allein unterm Anfangsbuchstaben A zählt man 44 Stücke. Man kann das Verzeichnis der Drehorgel-Kartonwerke auch nach Themenbereichen geordnet aufrufen: Kino, Klassik, Jazz, Kinder. Oder nach Epochen. Der Preis für den ersten Karton beträgt übrigens 5 Euro, jede nachfolgende Pappe kostet 1 Euro. Ein Lochstreifenwerk für 75 Euro besteht demnach aus rund 70 Pappen, die zu einer langen, gefalteten Papierschlange aneinander geklebt sind. Die meisten Titel im Repertoire sind sofort lieferbar, der Rest kann „sehr schnell“ hergestellt werden, in Pierre Charials eigener Werkstatt nämlich. Nicht auf der Website, aber anderswo findet man mit Glück auch ein paar englische Sätze über Pierre Charial. Leider lesen sie sich wie von einem blöden digitalen Übersetzungs-Programm formuliert: „The sign is this step only this music only requires to reappear?“ Man rätselt. Es wird klar: Sicherheit kann nur ein Interview schaffen. Philippe aus der Bothmerstraße hilft mir bei der Formulierung der Fragen an den wortkargen Lochstreifenstanzer von Paris. Charial spricht nur Französisch.

2.
Die Mechanik der Drehorgel (Orgue de Barbarie) befindet sich noch weitgehend auf dem Stand des 18. Jahrhunderts. Damals schrieben selbst Komponisten wie Bach, Händel, Haydn, Mozart und Beethoven für mechanische Orgeln und Flötenuhren. Als Pierre Charial 1974 das Instrument für sich entdeckte, war er 30 Jahre alt. Zunächst schien es ihm nur eine Kuriosität zu sein, ein seltsames Mysterium aus der Sphäre der Jahrmärkte und Karussells. Doch nachdem er sich mit der historischen Spielliteratur vertraut gemacht hatte, erwachte seine Leidenschaft für das künstlerische Potential des Leierkastens. Obwohl das Instrument nur dreieinhalb Oktaven umfasst und zu keinem Espressivo fähig ist, besitzt es einige außergewöhnliche Charakterzüge: präzise und tonhöhengenaue Intonation, reine und homogene Klangfarben, eine vielstimmige, orchestrale Virtuosität. „Die Drehorgel ist allen anderen Instrumenten in einem absolut überlegen“, sagt Charial: „Sie allein erlaubt, die Dauer eines jeden Tons exakt zu kontrollieren.“ Viele Jahre lang hat Pierre Charial, begleitet von Françoise Terrioux, für die Rehabilitation der Drehorgel gekämpft. Er spielte die Klassiker – wie Haydns „32 Stücke für Flötenuhr“ – und erarbeitete neue Arrangements – etwa einen Drehorgel-Part für Prokofievs „Peter und der Wolf“. Sein Beispiel regte zeitgenössische Komponisten an, für die Drehorgel zu schreiben, darunter Luciano Berio und Iannis Xenakis. Der Franzose Marius Constant komponierte für Charial ein Konzert für Drehorgel und Orchester. In Zusammenarbeit mit dem Jazzpianisten Martial Solal entstand eine „Pièce de rechange pour orgue mécanique“. Und für seine Debütplatte „Hors Gabarit“ adaptierte Charial 1985 ganz unterschiedliche Kompositionen wie Chick Coreas „Spain“, Mike Mainieris „Oops“ oder einen Walzer von Igor Strawinsky. „Meine Arbeit an ‚Hors Gabarit’ war der Wendepunkt. Hier tauchte für mich durch eine besondere Kreation die wahre Sprache der Drehorgel auf.“

3.
Damals begann Pierre Charials altertümliche „Orgue de Barbarie“, sich in eine Stimme der Avantgarde zu verwandeln. 1988 machte der abenteuerlustige Leierkastenmann durch Conlon Nancarrow in Köln die persönliche Bekanntschaft von György Ligeti, der ihn damit beauftragte, seine legendäre Cembalo-Komposition „Continuum“ für die Drehorgel zu adaptieren. Dem Prestissimo-Stück, das verschiedene motorische Abläufe zu einem flirrenden, kontinuierlichen Gittermuster schichtet, folgten bald weitere Ligeti-Aufträge wie „Hungarian Rock“ oder die elfsätzige „Musica Ricercata“. Auch die Innovatoren im Grenzgebiet von Jazz, Neuer Musik und Imaginärer Folklore wurden auf die stilistisch verwandelte Drehorgel aufmerksam. Nicht zuletzt der französische Name des Instruments, Orgue de Barbarie, wirkte hier inspirierend: Die neuen „Barbaren“ in Europas Jazz kombinierten den Leierkasten mit anderen hemdsärmeligen Klangerzeugern wie Mundharmonika, Akkordeon und Tuba. Michel Godard ließ sich von Charials mechanischem Arrangement des „Karnevals von Venedig“ (von Arban) begleiten. In Michael Riesslers „Orange“ setzte Charials Drehorgel die Grenzmarken des tonal-strukturalen Klangfelds. Und zu Sylvie Courvoisiers Projekt „Ocre“ (ein Wortspiel über „orgue“) steuerte der Drehorgler auch als Komponist den Geist seines modern verfremdeten Instruments bei: kleine, bizarre Tänze, in denen sich Nostalgie und Futurismus zum Cluster verschränken.

4.
Pierre Charial spielt ein 42-töniges Instrument mit 156 Pfeifen und drei Registern. Es ist eine Sonderanfertigung des Drehorgelbauers André Odin, mit dem Charial seit 1979 in Kontakt steht. Wechselweise inspirieren sich die beiden bei der Weiterentwicklung von Instrument und Lochkarte, Technik und Repertoire. „Unsere enge Verbindung ermöglicht es uns, parallel fortzuschreiten“, verlautet aus dem Hause Odin: „er in der Markierung der Pappkartons, wir in der Herstellung und Verbesserung der Orgel.“ Beim Stanzen seiner Lochstreifen-Romane lässt sich Charial freilich nicht über die Schulter sehen: „In der Theorie ist es sehr einfach“, sagt er. „Es genügt, im Karton an der richtigen Stelle eine Perforierung in der richtigen Länge anzubringen.“ Auch sonst bleibt Charial konsequent wortkarg. Vielleicht wartet aber auch zu viel Arbeit in der Werkstatt auf ihn: Zusammen mit seiner Frau Fabienne markiert er dort in emsiger Kleinstarbeit Note für Note die Arrangements in die Kartons, die er auf seiner Website anbietet. Wenn dann der zusammengefaltete Stoß der Lochkarten als lange Papierschlange in die gewaltige hölzerne Maschine kriecht, wo sich die abstrakte Lochgrafik verblüffend mächtig in orchestrale Flächen oder skurrile Polyphonie übersetzt, und wenn sich die Schlange auf der anderen Seite wieder zum Stoß stapelt, ist das ein unvergessliches Erlebnis für Auge und Ohr. Für die Qualität der Aufführung bleibt die exakte Perforation nur Prämisse: Einer wie Charial ist trotz allem auch Interpret. Die Art und Weise, wie er mit der Handkurbel umgeht, sorgfältig und auf die Mitspieler reagierend, macht die Größe und Lebendigkeit seiner Kunst aus. „Die Drehung der Kurbel ist eine musikalische Geste, sehr expressiv“, sagt er selbst. Die Tempi, der Atem, die Spannung der Musik entstehen im Augenblick und immer wieder anders, immer wieder neu. Pierre Charial ist nicht nur der Pilot seiner Maschine, sondern auch ihr Poet.

Auswahldiskografie

Pierre Charial: Hors Gabarit (Label Nocturne, 1985)
Michel Godard: Aborigène (Hopi, 1993)
György Ligeti: Mechanical Music (Sony, 1995)
Sylvie Courvoisier: Ocre (Enja, 1997)
Sylvie Courvoisier: Y2K (Enja, 1999)
Michael Riessler: Orange (ACT, 2000)
Sabine Meyer: Paris Mécanique (Marsyas, 2005)

in memoriam Philippe Rébillaud (1949-2005)

© 2004, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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