NEWS





Zurück

Vor fünfzig Jahren – genauer gesagt: am 2. März und 22. April 1959 – entstanden in New York die Aufnahmen für das berühmteste und meistverkaufte Jazzalbum der Musikgeschichte: Miles Davis’ „Kind of Blue“. Kaum ein Jazzfan, der seine zehn Lieblingsplatten nennen soll, wird diese eine auslassen. Fast jeder Promi, der gefragt wird, ob er auch Jazz möge, antwortet reflexartig: „Kind of Blue“. Wer nur ein einziges Jazzalbum besitzt, besitzt dieses. Es ist die Leib- und Magenplatte des modernen Jazz – und hat auch den Sound der Popmusik nachhaltig geprägt. Der Jazzmusiker und Pop-Produzent Quincy Jones sagte einmal: „Ich höre ‚Kind of Blue’ jeden Tag – das ist mein Orangensaft.“

50 Jahre KIND OF BLUE
Ein Album verändert die Musikwelt
(2009)

Von Hans-Jürgen Schaal

Das modale Meisterwerk?

Was ist das Besondere an „Kind of Blue“? Es heißt, mit dieser Platte habe der modale Jazz begonnen. Modaler Jazz – das bedeutet: Die Musiker improvisieren nicht mehr über Begleitakkorde, die nach einem bestimmten Schema wechseln, sondern sie spielen längere Zeit in einer gleich bleibenden Tonskala. Eine Praxis, die in vielen Musikkulturen Asiens und Afrikas seit Jahrtausenden üblich ist. Mit dem modalen Spiel emanzipierte sich der Jazz also ein Stück weit von den Vorgaben der Broadway-Songs – und machte einen wichtigen Schritt in Richtung einer globalen Musikkultur. Miles Davis behauptete, eine Aufführung des Ballet Africaine aus Guinea habe ihn auf die modale Spielweise gebracht: „Jedenfalls war ich völlig weg, als ich das Ballet Africaine sah. Es faszinierte mich. Ich wollte es nicht kopieren, aber ich machte mir ein Konzept daraus.“ Der südafrikanische Trompeter Hugh Masekela wollte aus „Kind of Blue“ sogar „starke kongolesische Anklänge“ heraushören.

Den modalen Jazz erfunden hat die Platte dennoch nicht. Schon ein Jahr vorher hatte Miles Davis mit dem Stück „Miles (tones)“ das modale Konzept erprobt. Und noch einmal fünf Jahre vorher war ein in Musikerkreisen viel beachtetes Theoriewerk des Jazzkomponisten George Russell erschienen, das sich mit der bestklingenden Umsetzung von Tonskalen beschäftigt: „Lydian Chromatic Concept Of Tonal Organisation“. Was er von Russell gelernt hatte, fasste Miles Davis – etwas eigenwillig – so zusammen: „George Russell sagte immer, dass in der modalen Musik das C an der Stelle vom F steht.“ Tatsächlich hat Russell schon in den Vierzigerjahren mit modalem Jazz experimentiert. Andere Arrangeure arbeiteten ebenfalls damit – zum Beispiel Gil Evans, der im Jahr vor „Kind of Blue“ für ein Solo von Miles Davis „nur eine Skala, keine Akkorde“ als Vorgabe schrieb.

War „Kind of Blue“ dann wenigstens das Album, das den modalen Jazz erstmals konsequent umsetzte? Man darf es bezweifeln. Das Eröffnungsstück „So What“ benutzt zwar nur zwei Tonskalen, die obendrein nicht harmonisch miteinander verwandt sind, folgt dabei aber ganz der konventionellen 32-taktigen Form, wie sie 80 Prozent der Broadway-Songs verwenden. „Freddie Freeloader“ und „All Blues“, zwei weitere Stücke des Albums, sind einfach 12-taktige Blues mit einer sehr reduzierten Harmonik, die auch aus der Zeit vor Swing und Bebop kommen könnte. An „Blue In Green“ ist ungewöhnlich, dass der Chorus 10 Takte hat und wie in einer unendlichen Schleife immer wieder in sich selbst mündet – ansonsten verwendet das Stück schulmäßige Harmoniewechsel.

Bleibt noch „Flamenco Sketches“, das Stück, das – zumindest von der Idee her – den modalen Jazz am besten verwirklicht. Denn nur in diesem letzten der fünf Titel ist die Absage an ein Akkordschema auch wirklich mit einer Auflösung der Strophenform als solcher verbunden. Tatsächlich variieren die Soli in der Länge zwischen 22 und 33 Takten. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber ein sehr schlichtes Strickmuster. Alle Soli bewegen sich über 5 Tonskalen oder Modi, deren Aufbau und Reihenfolge genau festgelegt sind. Bis auf zwei Ausnahmen wird dabei immer genau vier oder acht Takte lang in einem Modus improvisiert – also in völlig konventionellen Taktgruppen. Die Modi sind zwar als Kirchentonarten definiert (Ionisch über C, Phrygisch über D usw.), folgen aber unüberhörbar einer ganz simplen harmonischen Logik: C-Dur, f-Moll, B-Dur (g-moll).

Ein Meisterwerk der Intuition

Der Erfolg des Albums verdankt sich offenbar nicht seinen modalen „Pioniertaten“, die – wie wir gesehen haben – so revolutionär nicht sind. Stellen wir also noch einmal die Frage: Was ist das Besondere an „Kind of Blue“? Aufschlussreich ist da ein Blick auf die Jahre danach. Miles Davis hat die „modalen“ Stücke „So What“ und „All Blues“ noch jahrelang im Programm seiner Bands gehabt, sie aber nie mehr so langsam gespielt wie auf dem Album, sondern sie vielmehr in Hochgeschwindigkeit hingefetzt. John Coltrane hat das modale Spiel zu ekstatischen 20- oder 30-minütigen Solo-Exkursionen gesteigert, in denen die Noten gleich bündelweise aus dem Saxophon hagelten. Auf „Kind of Blue“ jedoch hören wir modalen Jazz noch im Zeitlupentempo: Das Album badet durchgängig in „Ballad Moods“. Nicht umsonst schafften es mindestens drei der fünf Stücke auch auf Singles in die Jukebox – als romantische B-Seiten.

Die Musik auf „Kind of Blue“ besitzt in der Tat etwas Schlafwandlerisches, eine tranceartige Melancholie, ein durchgängiges „Junkie-Tempo“, wie es Quincy Jones einmal formulierte. Diese Verhaltenheit machte die Stücke – allen voran wieder „So What“ und „All Blues“ – nicht nur für jede Amateurband spielbar, sondern verlieh der gesamten Platte einen ungewohnt träumerischen Charakter. Die einen sprechen von angenehmer Hintergrundbeschallung, die anderen von der idealen Verführerplatte. Donald Fagen von Steely Dan empfahl sie geradezu als Aphrodisiakum: „eine Art Barry White für die damalige Zeit“. Geben wir es ruhig zu: Der Millionenerfolg von „Kind of Blue“ verdankt sich keinen revolutionären Neuerungen, sondern einer stimmungsvollen Schlichtheit.

Das Erstaunliche ist nur, dass es Miles Davis gelang, gerade die beiden Heißsporne in der Band – John Coltrane und Cannonball Adderley – zu so viel Zurückhaltung zu bewegen. Miles selbst verriet einen Teil seiner Strategie: „Für ‚Kind of Blue’ brachte ich nur einige Skizzen mit ins Studio, denn ich wollte die Spontaneität in der Musik erhalten.“ Mit anderen Worten: Es gelang ihm, durch ungewohnte Vorgaben und sparsame Information die selbstverständliche Virtuosität seiner Mitmusiker zu erschüttern. Die Solisten konnten nicht auf bekannte Akkordfolgen vertrauen, sondern sahen sich mit zunächst fremd wirkenden Kirchentonarten konfrontiert. Die Blues-Harmonien waren reduziert, die Skalen blieben hartnäckig, gähnende Räume öffneten sich vor den Solisten.

„Bei der modalen Form musst du melodische Fantasie beweisen“, sagte Miles einmal. Das modale Konzept prägte „Kind of Blue“ zwar, aber vor allem in der Funktion als Routine-Bremse. Man hört es förmlich, wie die Musiker tastend und vorsichtig auf unbekanntes Gelände treten und von ihren Gewohnheiten Abschied nehmen. Es gab im Studio viele Patzer, viele neue Anfänge, denn Miles ließ ihnen einfach nicht die Chance, sich in der Musik daheim zu fühlen. Die Taktart von „All Blues“ änderte er erst in letzter Minute von 4/4 zu 6/8. In „Blue In Green“, das in „normalen“ Akkordsymbolen notiert war, ließ er Cannonball, den Meister der Akkord-Modulation, gar nicht erst mitspielen.

Das Ergebnis: Sieben der besten, stilistisch fortgeschrittensten, individuell originellsten Jazzmusiker von 1959 stolperten hinaus auf die Oberfläche eines unerforschten Planeten – und schufen dabei einen ganz neuen Tonfall. George Russell nannte Miles’ Solo in „So What“ eine der schönsten Improvisationen aller Zeiten. Doch diese Augenblicke fundamentaler, melancholischer Spontaneität – keiner von ihnen konnte sie wiederholen. Gerade das Vorläufige, Tastende, das einer improvisierten „japanischen Tuschezeichnung“ ähnelt, wie Bill Evans schrieb, macht die Besonderheit von „Kind of Blue“ aus. Ein Glücksfall, geboren aus Miles Davis’ Intuition. Er selbst war sein strengster Kritiker: „Mir ist da nicht das gelungen, was ich eigentlich wollte. Ich möchte nicht, dass man mich dieses Albums wegen mag.“ Ein Meisterwerk aus Versehen?

Die ansteckende Kraft

Auch wenn die beteiligten Musiker bald getrennte Wege gingen und wieder wesentlich heftigere Töne hervorbrachten, verlor sich die besondere Melancholie von „Kind of Blue“ nie mehr. Dafür sorgten schon all jene, die von diesem Album im Innersten berührt wurden und von der „Melancholie des Modalen“ nicht genug bekommen konnten. Vor allem „So What“ und „All Blues“ wurden Teil des Standard-Repertoires im Jazz, wurden aber auch von Fusion-, Soul-, Rock-, Blues- und Latin-Bands gecovert. Saxophonquartette spielten diese Stücke ebenso wie Brass Bands, und Sänger betexteten sie und machten sie zu wirkungsvollen Vokalnummern. Bald begannen unzählige Jazzmusiker entspannte modale Kompositionen in der tranceartigen „Kind-of-Blue“-Stimmung zu schreiben.

Die atmosphärische Vibration von „Kind of Blue“ liegt seit 50 Jahren eigentlich ununterbrochen in der Luft. Donald Fagen hörte den Einfluss des Albums in der Filmmusik der frühen Sechziger, Ben Sidran ebenso im TripHop und hypnotischen Drum&Bass der Neunziger. Sogar bildende Künstler und Ballett-Choreographen ließen sich inspirieren. Der Soul-Saxophonist Pee Wee Ellis machte aus „So What“ den James-Brown-Hit „Cold Sweat“, der Blues-Rock-Gitarrist Duane Allman (Allman Brothers) begann unterm Einfluss von „Kind of Blue“ über stehende Akkorde zu improvisieren: „Ich habe mir das Album so oft angehört“, sagte Allman 1969, „dass ich in den letzten paar Jahren kaum etwas anderes hören konnte.“ Rock-Giganten wie die Doors oder Pink Floyd holten sich ebenso ihre Anregungen. Pink Floyds verstorbener Keyboarder Rick Wright wies darauf hin, dass die Akkordstruktur ihres Songs „Breathe“ direkt von „Kind of Blue“ beeinflusst sei. „Nenn mir irgendwelche Musik, in der du NICHT Anklänge daran findest“, sagte Herbie Hancock. „Ich höre es überall.“

Über "Kind Of Blue"

Q-Tip, Rapper: “’Kind of Blue’ ist wie die Bibel. Du musst einfach ein Exemplar im Haus haben.”

Rick Wright (Pink Floyd): “Ich begegnete Jazz erstmals am Radio und hörte traditionellere Musiker wie Humphrey Lyttelton und Kenny Ball. Dann entdeckte ich Miles Davis’ ‘Kind of Blue’ - und es wurde richtig aufregend.”

Vincent Klink, Sternekoch: “’Das ist meine Lieblingsplatte seit 40 Jahren. Meine Sehnsucht war immer, Trompete zu spielen.”

Hubert von Goisern, Weltmusiker: “Lieblingsplatten? Zunächst von Miles Davis ‘Kind of Blue’...”

Herbie Hancock, Keyboarder: “Für Musiker aus meiner Generation war es eine Tür, die erste in unserem Leben. Bevor ‘Kind of Blue’ erschien, hatte ich mir nie auch nur vorgestellt, Jazz auf eine andere Art zu spielen.”

Donald Fagen (Steely Dan): “Im Grunde wurde ‘Kind of Blue’ rund sechs Monate nach seiner Veröffentlichung zur Bibel.”

Quincy Jones, Produzent: “Mit dem Album ging die Ära des Bebop zu Ende. ‘Kind of Blue’ war die Stimme jener Ära – von 1948 bis 1959 -, es war der absolute Gipfelpunkt.”

David Amram, Hornist: “Ich fand immer, dass ‘Kind of Blue’ Miles’ Liebeserklärung an Charlie Parker war... ein Abschiedsgruß, ein Aufbruch aus dieser ganzen Phase.”

Bill Crow, Bassist: “Ich höre das Album in einer ganzen Generation junger Klavierspieler (nachklingen).”

Jimmy Cobb, letzter Überlebender der Sessions: “Nie hätten wir uns damals vorstellen können, dass ‘Kind of Blue’ zu dem werden würde, was es geworden ist. Ich bin sehr stolz, daran beteiligt gewesen zu sein.”

Quincy Jones, Produzent: “Das wird immer meine Musik sein. Es klingt noch immer so, als wäre es erst gestern aufgenommen worden.”

Chick Corea, Pianist: “Der Musik praktisch eine neue Sprache erschaffen – das hat ‘Kind of Blue’ getan.”

Ben Sidran, Sänger und Pianist: “Die Platte eignete sich eindeutig zum Verführen. Wenn ich die Augen schließe, kommen mir Situationen mit längst vergessenen Mädchen in den Sinn.”

Donald Fagen (Steely Dan): “Wegen der tranceartigen Atmosphäre, die das Album schafft, war es die perfekte Hintergrundmusik für Sex.”

*****

MILES DAVIS: KIND OF BLUE

Aufnahmejahr: 1959
Aufnahmeort: New York City, 30th Street Studio
Label: Columbia
Produzent: Irving Townsend

Die Musiker:
Miles Davis (1926-1991) – Trompete
John Coltrane (1926-1967) – Tenorsaxophon
Cannonball Adderley (1928-1975) – Altsaxophon
Bill Evans (1929-1980) – Klavier
Wynton Kelly (1931-1971) – Klavier
Paul Chambers (1935-1969) – Kontrabass
Jimmy Cobb (geb. 1929) – Schlagzeug

Die Stücke:
1. So What (9:05)
2. Freddie Freeloader (9:35)
3. Blue In Green (5:28)
4. All Blues (11:33)
5. Flamenco Sketches (9:25)

LP-Veröffentlichung: 1959
Erste CD-Veröffentlichung: 1984
Digital remasterte Edition: 1997 (mit einem Alternate Take von „Flamenco Sketches“)
Aktuelle Jubiläums-Edition: 2008 (50th Anniversary Collector’s Edition, Boxed Set mit 2 CDs, DVD, Vinyl, Buch usw.)
Alle im Vertrieb von SonyBMG

© 2009, 2011 Hans-Jürgen Schaal


Bild

10.04.2024
Neue Jazz-Rezensionen im April: QUINTET WEST, EMILE PARISIEN, JOHANNES BIGGE, SUN ARK, MARY HALVORSON, FRANK WINGOLD, SANDRO ROY (alle: Jazz thing bzw. jazzthing.de)

08.04.2024
Aktuelle Artikel über SHORTY ROGERS (Brawoo), KRAUTROCK (Neue Musikzeitung) und den KEMPTENER JAZZFRÜHLING (Brawoo)

30.03.2024
Neues zur Klassik: BEETHOVENs Opus 133, der Komponist ISANG YUN, Alben mit Werken von LOUIS WAYNE BALLARD und französischer Musik für ZWEI PIANOS sowie ein BACH-Roman von ANNA ENQUIST (alle: Fidelity 172)

25.03.2024
ROCK im März: Das BEATLES-Album "Revolver", ein BEATLES-Tribute und das URIAH-HEEP-Album "Wonderworld" (alle: Fidelity), die Band TEN YEARS AFTER (Image Hifi) und die Autobiografie von GEEZER BUTLER (Fidelity)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de