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Einer der genialsten Tricks der Musikgeschichte war um 1700 die Erfindung der gleichmäßigen Temperatur. Sie machte Fis austauschbar mit Ges, Cis mit Des, Dis mit Es... und alle 24 Tonarten und die Modulation zwischen ihnen praktikabel. Sie erst machte den Quintenzirkel perfekt.

Wohltemperierte Moderne
Hindemith, Schostakowitsch, Shchedrin
(2013)

Von Hans-Jürgen Schaal

Johann Sebastian Bach war der Erste, der aus dieser Neuerung große Kunst zu schlagen wusste: 1722 veröffentlichte er einen Zyklus von 24 Präludien und Fugen „durch alle Töne und Halbtöne“ und nannte ihn „Das Wohltemperierte Klavier“. Zwar ordnet Bach die Tonarten dabei sachlich-chromatisch an (aufsteigend von C/c bis H/h), reflektiert aber in den von C-dur harmonisch weit entfernten Tonarten durchaus das noch Ungewohnte, Fremdartige, Zerbrechliche, auch den Abschied vom alten „Charakter“, den die Tonart als schlecht temperierte besessen hatte. 20 Jahre später – inzwischen war die gleichmäßige Stimmung weithin gebräuchlich – stellte der als Thomaskantor viel beschäftigte Bach einen zweiten Zyklus aus 24 Präludien und Fugen zusammen. Das waren nun Stücke unterschiedlichen Ursprungs, eine heterogene Preziosen-Sammlung, in der die Präludien an Gewicht gewinnen, Sonatenform und Homophonie der Vorklassik schon anklingen, aber auch Bachs riskant chromatischer Spätstil aufscheint. Die Nachwelt nannte diese Sammlung das „zweite Buch“ des „Wohltemperierten Klaviers“.

Im englischen Sprachkreis fasst man beide Zyklen zusammen als „The Forty-Eight“. Daraus spricht der fast mythische Respekt vor diesem Werk – als dürfte man den eigentlichen Namen nicht aussprechen, der schon verrät, was diese Klavierzyklen markieren: die kopernikanische Wende in Europas Musikgeschichte. Während das meiste von Bach nach seinem Tod auf Jahrzehnte hinaus vergessen und verdrängt wurde, blieben die epochalen „Forty-Eight“ lebendig. „Immer, wenn ich beim Komponieren ins Stocken geriet, nahm ich mir das ‚Wohltemperierte Klavier‘ hervor, und sogleich sprossen mir wieder neue Ideen“, bekannte Beethoven. Die Romantiker (Gounod, Moscheles, Czerny u.a.) bearbeiteten einzelne Stücke aus den Zyklen mit neuartiger Einfühlung. Chopin ließ sich sogar dazu hinreißen, seine eigenen „Préludes“ ebenfalls in allen 24 Tonarten zu schreiben, ordnete sie aber gemäß dem Quintenzirkel (C/a, G/e, D/h...).

Das 20. Jahrhundert fand andere, neue Zugänge zu Bach. Futurismus, Bruitismus, Historismus, Zwölftonmusik und die Katastrophen der Diktaturen und Weltkriege: Bach schien da zuweilen der letzte feste Halt in einer erschütterten Welt, eine ewige Wahrheit wie Mathematik und Kosmos. Schon in den 1920er-Jahren empfand Paul Hindemith die polyphone Sachlichkeit als zeitgemäß, belebte wieder Fugen- und Suitenformen, bewies ein geradezu barockes Musikanten-Talent und förderte die Gebrauchsmusik. In seiner Schrift „Unterweisung im Tonsatz“ versuchte er sogar eine moderne Auffassung „melodischer Tonalität“ zu begründen. Nach dem Vorbild Bachs, der in den „Forty-Eight“ das temperierte System exerziert hatte, schuf Hindemith zur Demonstration seiner Ideen 1942 im amerikanischen Exil den Klavierzyklus Ludus Tonalis: 12 dreistimmige Fugen, dazwischen 11 Interludien sowie ein Prae- und ein Postludium. Da Hindemiths System nicht zwischen Dur und Moll unterscheidet, genügen ihm zwölf Tonarten, die er gemäß seiner Theorie nach ihrer Oberton-Verwandtschaft zur Ausgangs-Tonart C anordnet: Die letzte Fuge steht in Fis, dem Tritonus. Dieser Gang vom C zum Fis wird im Praeludium schon angedeutet, während das Postludium dann – als exakte Krebsumkehrung des Praeludiums – vom Fis der letzten Fuge wieder zum Ausgangs-C zurückführt. Die faszinierend vielfältigen Fugen – darunter Doppel-, Tripel-, Spiegel-, Krebsfuge usw. – entwickeln sich aus unaufgeregten Themen zu dynamischen Netzwerken. Die Interludien sind dagegen musikantisch verspielte Charakterstücke, die sich an Walzer, Marsch, Polka, Romanze usw. orientieren. Auf der Doppel-CD „Music for One and Two Pianos“ verbindet der britische Pianist Bernard Roberts den „Ludus Tonalis“ mit gleich fünf Hindemith-Sonaten aus derselben Zeit (1936-1942). Eine geballte Ladung gewitzter Chromatik mit tonalem Kern.

Gleich nach dem Krieg stand 1950 Johann Sebastian Bachs 200. Todestag an. Beim Klavierwettbewerb in der Bach-Stadt Leipzig saß auch Dmitri Schostakowitsch in der Jury und hörte mit Begeisterung die junge Pianistin Tatjana Nikolajewa. Ihre Interpretation des „Wohltemperierten Klaviers“ machte auf ihn so großen Eindruck, dass er innerhalb von nicht einmal fünf Monaten seine eigenen 24 Präludien und Fugen komponierte, ein Werk von über zwei Stunden Gesamtlänge. Die Tonarten ordnet Schostakowitsch nach dem Quintenzirkel (wie Chopin), die Präludien nutzt er als thematische Vorspiele der Fugen. Nach den Konflikten mit der stalinistischen Kulturpolitik war dieser „Bach-Remake“ für den Komponisten eine willkommene Flucht in einen sicheren Kunst-Raum. Doch Schostakowitsch wäre nicht Schostakowitsch, würde er das formale Spiel nicht immer wieder auch großartig hinterfragen und mit Bizarrerien durchkreuzen. Die C-dur-Fuge ohne Betätigung einer einzigen schwarzen Taste und die As-dur-Fuge im 5/4-Takt sind offenkundige Beispiele. In Schwung und Dichte eifern Schostakowitschs Fugen, die teils zu grotesken chromatischen Sturmwellen anwachsen, durchaus den „Forty-Eight“ nach. Die äußerst kurzweiligen Präludien dagegen lassen mit Ironie auch platte Klischees einfließen, als wolle Schostakowitsch die Bach-Popularisierungen der kommenden Jahrzehnte aufs Korn nehmen. Keith Jarrett, hier einmal nicht der große Improvisator, findet in den „24 Preludes and Fugues op. 87“ nicht nur mathematische Ordnung, sondern hörbar auch ein hochvirtuoses Vergnügen.

Es war im Keller des sowjetischen Komponistenverbands, wo Schostakowitsch 1951 seine Präludien und Fugen exklusiv den Kollegen vorspielte. Unter ihnen befand sich der erst 18-jährige Rodion Shchedrin, der mir vor Jahren davon berichtete: „Schostakowitsch spielte beide Bände selbst, verteilt auf zwei Tage. Das war eine große Gelegenheit und Inspiration. Schostakowitsch war ein exzellenter Pianist, er hatte ja auch in Warschau beim Chopin-Wettbewerb einen Preis gewonnen. Ich spielte mit ihm später vierhändig Teile seiner letzten Sinfonien oder von Strawinskys Psalmensinfonie.“ Angeregt vom Keller-Erlebnis, aber auch von Bach und Hindemith, komponierte Shchedrin zwischen 1964 und 1970 seine eigenen 24 Preludes and Fugues for Piano, die er wie Schostakowitsch dem Quintenzirkel folgend anordnete: ein strenges, blühendes Manifest „gegen die Verlogenheit und Süßlichkeit“ (Sigrid Neef) der Musik in Ost und West. „Jedenfalls waren meine Präludien und Fugen für mich eine echte Herausforderung“, sagt Shchedrin. „Ich spielte selbst die Weltpremiere – in Moskau, dann Petersburg, Kiew...“ – und der Komponist nahm sein Werk auch selbst in Moskau auf: 1966 den ersten Teil (von C/a bis H/gis), 1971 den zweiten (von Ges/es bis F/d). Die Präludien, häufig verhalten-nachdenklich, im zweiten Teil auch zunehmend rasant-virtuos, sind aphoristische Ouvertüren zu den fantasievollen Fugen. Knifflige kontrapunktische Miniaturkunst bietet auch Shchedrins „Polyphonic Notebook for Piano“ von 1972.

*****

Hindemith: Music for One and Two Pianos (Nimbus NI 5459/60)
Schostakowitsch: 24 Preludes and Fugues op. 87 (ECM 1469/70)
Shchedrin: Polyphonic Notebook for Piano / 24 Preludes and Fugues for Piano (BMG 74321 36906 2)

© 2013, 2014 Hans-Jürgen Schaal


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