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Genesis, Pink Floyd oder Emerson Lake & Palmer waren nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige Bands spielten in den 1970er Jahren Progressive Rock – bis hinunter in den Amateur-Bereich. Wir erinnern an drei großartige Profi-Bands aus Italien, Deutschland und den USA.

Shine On, You Crazy Prog!
Vergessene Bands der Artrock-Ära
(2014)

Von Hans-Jürgen Schaal

Der britische Progressive Rock oder Artrock in den Jahren zwischen – sagen wir – 1969 und 1976 war eine große Erfolgsgeschichte. In Großbritannien erreichten Alben von Led Zeppelin, Queen oder ELP Chartplatz Nummer eins. Die Verkaufszahlen von Pink Floyds „The Dark Side Of The Moon“ wurden bis heute überhaupt nur von Michael Jacksons „Thriller“ übertroffen. Wir sind noch immer bestens vertraut mit Albumtiteln wie „Wish You Were Here“ oder „In The Court Of The Crimson King“, „Tales From Topographic Oceans“ oder „Aqualung“. Wir alle haben Songs aus dieser Zeit im Ohr, sei es „Musical Box“, „Epitaph“, „Child In Time“, „Lucky Man“, „Whole Lotta Love“, „Locomotive Breath“ oder „Shine On You Crazy Diamond“. Die Stimmen von Peter Gabriel, David Gilmour, Greg Lake, Ian Anderson, Jon Anderson oder Robert Plant kennen wir alle. Und seit einigen Jahren füllen die Prog-Revivals und -Tributes auch wieder die ganz großen Hallen.

Dennoch machen wir uns eines selten bewusst: Die progressive Rockmusik war eine Bewegung, die auch mächtig in die Breite ging. Klar, es gab die Millionenseller von Pink Floyd, Mike Oldfield und ELP. Es gab auch eine Reihe heute legendärer Nerd- und Insider-Bands ohne Nummer-eins-Alben, aber mit einer ergebenen Fanbasis: etwa Yes, King Crimson, Gentle Giant, Focus. Aber obendrein und außerdem gab es – und zwar in allen ProgRock-begeisterten Ländern – unzählige Artrock-Bands von lokaler, regionaler oder nationaler Bedeutung. Selbst für Schüler- und Studentenkapellen war es um 1974 völlig normal, „progressiv“ zu spielen. Was einfach bedeutete: Sie hatten ausgedehnte, mehrteilige Songs („Longtracks“) im Programm; sie boten Soli nicht nur auf der Gitarre, sondern auch auf Orgel, E-Bass, Synthesizer usw.; sie integrierten größere, durchkomponierte, komplexe Instrumentalteile in ihre Musik; sie bauten mitten im Song Rhythmus- und Stimmungswechsel ein („Brüche“); sie verwendeten Klassik-, Folk- und Jazz-Elemente; und sie fügten überraschende Klangfarben hinzu wie Flöte, Saxophon, Geige, Cembalo oder Mellotron.

Im Musikland Italien mit seiner ausgeprägt urbanen Kultur im Norden war die ProgRock-Begeisterung immer groß. Zu den eigenständigsten Prog-Bands des Landes gehörten einst Premiata Forneria Marconi, kurz „La Premiata“ oder „PFM“. Die meisten Musiker dieser Band hatten sich ihre Sporen als Begleiter italienischer Popsänger verdient, ehe sie 1970 PFM gründeten. Mauro Pagani, der als Flötist und Geiger die „besonderen“ Sounds ins Rockquintett einbrachte, war dabei ein Katalysator. Man startete als Coverband, vor allem mit Stücken der frühen King Crimson. Als PFM international wahrgenommen wurden, begannen sie auch auf Englisch zu singen; die englischen Lyrics schrieb Peter Sinfield, der viel für King Crimson und ELP getextet hat. Auf ihrer US-Tournee 1974, dem Höhepunkt ihrer Karriere, spielten PFM als Vorband von u.a. Allman Brothers und Santana.

Im ersten Stück von „Per Un Amico“ (1972) hört man noch ein wenig den King-Crimson-Einfluss: Mellotron-Pathos, gemischt mit akustischer Gitarre und einem kräftigen Trommelbums. Einen sehr eigenen Ton haben dagegen die wunderbar sanften Vokalmelodien, die sich durchs ganze Album ziehen – auf Italienisch gesungen, fast im Falsett. Barocke Figuren (Flöte und Cembalo) und Folklore-Anklänge (akustische Gitarre und Geige) streiten sich spannend mit raffinierten Rockriffs. Zum unverkennbaren PFM-Stilmix gehört außerdem etwas klassische Brillanz im Klavier und etwas dezenter Swing in der Geige. Das Stück „Il Banchetto“ bietet eine faszinierende Synthesizer-Groteske (Keyboards: Flavio Premoli), während „Geranio“ mit einem kräftigen Shuffle-Rhythmus spielt. Der einzige Instrumental ist „Generale“, eine wild-rasante, bizarr-visionäre Fusion-Rock-Nummer mit schrägen Ragtime-Zutaten und einem fröhlichen Marsch der Piccoloflöte im Mittelteil. Das gesamte Album (mit zwei zusätzlichen Stücken) erschien ein Jahr später auch in englischer Version unter dem Titel „Photos Of Ghosts“.

Besser kannte man hierzulande die Prog-Bands aus Deutschland, vor allem Eloy und Triumvirat. Von anderen hiesigen Bands – wie Wallenstein, Hoelderlin, Novalis – hatte man als Musikfan zumindest schon mal gehört oder ein Plattencover in der Hand gehabt. Eine besondere Prog-Formation waren jedoch Schicke-Führs-Fröhling, auch „SFF“ genannt. Wie die namhafteren Kollegen von The Nice, ELP, Triumvirat oder Trace bildeten SFF ein Trio mit den Keyboards im Mittelpunkt. Ihr Debütalbum „Symphonic Dreams“ entstand 1976 und wäre beinahe von Frank Zappa produziert worden. Der Albumtitel verrät schon, dass es in dieser Musik ziemlich komplex, ambitioniert und aufwändig zugeht: melancholische Dramatik, düstere Abgründe, markante Rockthemen. Dabei werden ständig neue Motive entwickelt, variiert, verquickt und verwandelt. Eduard Schickes Schlagzeug gibt die kräftige Erdung für die mutigen Soundgebirge des Keyboarders Gerd Führs. Der Allrounder Heinz Fröhling sorgt derweil für die Feinzutaten an Gitarre, Bass und weiteren Keyboards. Ein farbstarkes Instrumental-Album, das aufgrund seiner musikalischen Ernsthaftigkeit nicht wirklich altert.

Auch in den USA hatte der ProgRock viele Fans unter Hörern und Musikern. Zu den international bekanntesten amerikanischen Bands des Genres gehörten damals Kansas und Pavlov’s Dog, die beide 1972 gegründet wurden. Ein Jahr später entstanden Happy The Man, deren Gründungsmitglieder – Stanley Whitaker (Gitarre) und Rick Kennell (Bass) – sich übrigens in Deutschland kennengelernt hatten. Hier allerdings wurde die Band kaum bekannt, während sie in den USA als die „grandfathers of prog rock“ gefeiert wurden. Das Quintett, das einmal mit Coverversionen von Genesis begonnen hatte, bekam 1976 sogar das Angebot, Peter Gabriels neue Tourband zu werden. Man musste aber ablehnen: Gabriel wollte nicht, dass Happy The Man gleichzeitig ihre eigene Bandkarriere fortsetzten.

Anders als die Pioniere des ProgRock Anfang der Siebzigerjahre verfügten die Amerikaner 1978 bereits über ein reiches Arsenal an Elektronik. Die Musik auf dem Album „Crafty Hands“ wird daher von den beiden Keyboardern dominiert: Sie schaffen dichte, harmonisch pulsierende Ströme, die immer wieder von konträren Ideen, motivischen Einwürfen und frechen Rhythmuswechseln kommentiert werden. Bis auf „Wind Up Doll Day Wind“ sind alle Stücke rein instrumental. Dabei sorgt das Saxophon gelegentlich für kräftige Riffs, Flöte und Blockflöte bringen auch Folklore-Anklänge ins Spiel. Die packenden, rhythmusbetonten Stücke „Ibby It is“, „Steaming Pipes“ und „I Forgot To Push It“ erinnern zuweilen an King Crimsons insistierende Motivsprache. Doch als das Album „Crafty Hands“ erschien, war der ProgRock gerade mal so richtig aus der Mode gekommen. Die Plattenfirma verweigerte danach einen neuen Vertrag – und Happy The Man lösten sich 1979 auf.

© 2014, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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