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Als er einmal vor offenem Mikrofon einen Radiomoderator wie einen Schuljungen zurechtwies, konnte der nur noch stammeln: „Jawohl, Vater!“ Der Ehrenname „Fatha“ blieb nicht umsonst an Earl Hines haften: Er ist der geistige Vater aller folgenden Jazzpianisten, der kreative Knotenpunkt, aus dem sich die stilistischen Stränge entwickelten.

Earl Hines
Majestät des Pianos
(2003)

Von Hans-Jürgen Schaal

Das Königsinstrument des frühen Jazz war die Trompete, das Kornett. Auch Earl Hines versuchte sich als Jugendlicher daran, fand das Blasen aber auf Dauer zu anstrengend und zog traditionellen Klavierunterricht vor. Dennoch waren es Kornettisten, die ihn inspirierten: sein eigener Vater, dann die Virtuosen Joe Smith und Gus Aiken, schließlich natürlich Louis Armstrong. Der junge Earl Hines begann, der Brillanz und Durchschlagskraft der großen Trompetensolisten am Klavier nachzueifern. An die Stelle des „orchestralen“ Anspruchs herkömmlicher Solo-Pianisten setzte er ein zweigeteiltes Spielkonzept: Die linke Hand sorgte für den durchgängigen Beat von Bass und Akkord, die rechte aber startete zu Soloflügen nach Trompeter-Art – mit rhythmisch präzisen Single-Note-Linien, mit Trillern, die das Bläser-Vibrato nachahmen, und scheinbaren Atempausen zwischen den Phrasen. Um bei diesem „trumpet style“ nicht im Fortissimo toben zu müssen, griff Hines auf einen einfachen Trick zurück: Er verstärkte seine Läufe durch die Oktave, die Dezime oder gar die Duodezime. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, er verdanke den weiten Griff seiner Finger einer chirurgischen Operation.

Geschäftstüchtig war er immer. Als Jugendlichen zog es ihn nicht zuletzt deshalb zur Jazzmode hin, weil dort am meisten Geld zu verdienen war. Mit 14 Jahren war er bereits professioneller Begleiter einer Sängerin. Mit seinem Verdienst finanzierte Hines seine weitere Ausbildung, indem er bei zwei lokalen Barpianisten lernte: Der eine soll eine überragende rechte, der andere eine außergewöhnliche linke Hand gehabt haben. 1922 ging er von Pittsburgh nach Chicago, der Jazz-Hauptstadt der 20er-Jahre, setzte sich dort rasch als stärkster Pianist durch und eroberte den Klavierstuhl in der erfolgreichen Carroll Dickerson Band. Als diese nach einer 42-wöchigen Tournee 1926 ins Sunset Café von Chicago zurückkehrte, übernahm Hines die künstlerische Leitung. Headliner der Band wurde ein junger Star-Trompeter namens Louis Armstrong, den Hines damals beim Jammen kennengelernt hatte.

Hines, Armstrong und der Schlagzeuger Zutty Singleton waren bald unzertrennlich. Im Sunset unterhielten sie das Publikum mit komischen Show- und Tanz-Einlagen: Der dünne, lange Hines tanzte mit dem dicken Armstrong Charleston, und Zutty Singleton trat sogar in Frauenkleidern auf. Jazzgeschichte schrieben die drei damals in Armstrongs zweiter Hot Five, einem Sextett, das im Juni 1928 den weltberühmten „West End Blues“ aufnahm. In dieser Band bewährte sich Hines’ Klavier-Strategie: Er war der zweitwichtigste Solist, verblüffte mit hochdynamischen Capricen, löste die linke Hand immer mehr vom starren Begleitschema und schuf kleine, komplexe Kunstwerke voll gegenläufiger Bewegungen. „Weather Bird Rag“, das unbegleitete Duett mit Armstrong, gehört zu den unverwüstlichen Geniestreichen des frühen Jazz. Die drei Unzertrennlichen gründeten sogar einen eigenen Nachtklub. Doch die Rezession machte ihnen einen Strich durch die Rechnung: Wie seine Freunde verlor Hines seine ganzen Ersparnisse.

Als es wieder aufwärts ging, präsentierte Earl Hines pünktlich zu seinem 25. Geburtstag seine eigene Big Band: Protegiert durch Al Capone, den legendären Unterweltkönig, wurde sie das Haus-Orchester der Grand Terrace in Chicago. Die Hines-Band begleitete Ethel Waters und Bojangles Robinson, ging auf Tournee, hatte einen Riesenerfolg mit Hines’ „Rosetta“, wurde regelmäßig im Radio übertragen und gewann landesweite Bekanntheit. Mehr als ein Jahrzehnt lang regierte Earl Hines die Grand Terrace – auch dann noch, als Chicagos Jazzszene eigentlich längst vor die Hunde ging. Materielle Sicherheit schien ihm wichtiger als musikalische Weiterentwicklung. Obwohl das Orchester zuweilen mit einem Spitzen-Arrangeur wie Jimmy Mundy arbeitete und Musiker wie Trummy Young, Ray Nance und Budd Johnson hervorbrachte, blieb es doch eine kommerziell orientierte Showband. Und Hines genoss seine Bühnenrolle als perfekter, gelassener Big-Band-Dompteur, als brillanter Klavierzauberer und erfolgreicher Geschäftsmann. Er versorgte seine Musiker mit Bademänteln, Pyjamas und Blumen für die Künstlergarderobe und liebte es, Journalisten und Fans zu empfangen. Gut gebaut, bestens gekleidet und überaus kommunikationsfreudig, verströmte er jenes majestätische Selbstbewusstsein, das ihm schon in Jugendjahren den Ehrennamen „Earl“ eingebracht hatte.

Erst ab 1940, nun in New York, wehten wieder frischere Lüftchen durch die Hines-Band. Der brillante Pianist machte sich die Boogie-Mode zunutze und hatte Erfolg mit seinem „Boogie Woogie On St. Louis Blues“. Dann schlug die Stunde seines Sängers Billy Eckstine, der als „Sepia-Sinatra“ mit dem „Stormy Monday Blues“ der Band einen Hit bescherte. Auf Betreiben von Eckstine verwandelte sich das Orchester Anfang 1943 sogar in einen Talenteschuppen. Man schleppte den Bandleader ins Minton’s und Monroe’s, die angesagten Bebop-Lokale in Harlem, und begeisterte ihn für die Experimente eines Dizzy Gillespie und Charlie „Bird“ Parker. Sänger Eckstine erzählte Dizzy, dass „Bird“ bei Hines einsteige, und er erzählte Bird, dass Dizzy dort engagiert sei: So fanden die Dioskuren des Bebop erstmals in einer Working Band zusammen. Hines, der eigentlich einen Tenorsaxofonisten suchte, kaufte den Altisten Parker aus Jay McShanns Band heraus, indem er seine Schulden dort beglich, gab ihm 10 Dollar für ein frisches Hemd und besorgte ihm ein Tenorsax – mit dem Parker allerdings nie recht warm wurde. Der geniale, aber disziplinlose Saxofonist versäumte die Hälfte der Auftritte und wurde von Hines regelmäßig mit einem Bußgeld belegt. Dennoch war der Bandleader von den jungen Modernisten beeindruckt, die mit Hingebung Bebop-Passagen in die Arrangements und Soli einbauten und in seinem Orchester ihre Ideen weiterentwickelten. Während der Zeit bei Earl Hines entstanden Bop-Klassiker wie Parkers „Dexterity“ oder Gillespies „A Night In Tunisia“ und „Salt Peanuts“. „Fatha“ Hines gab den Musikern Raum, sich zu entwickeln.

1944 verließ Billy Eckstine das Orchester, um seine eigene Band zu gründen, nahm die ganzen Bebopper mit sich und entzog der Hines-Band damit den Lebensnerv. 1948 – nach 20 Jahren Big-Band-Leitung – gab der Pianist sein Orchester ganz auf. Danach feierte er als Mitglied von Louis Armstrongs All-Stars die New-Orleans-Renaissance, kam dabei auch erstmals nach Europa, resignierte aber nach drei Jahren: Armstrong und Hines, die Freunde von einst, brachten ihre Egos nicht mehr in Einklang. Der Pianist zog sich wieder in ruhigere Fahrwasser zurück und ging mit Dixieland-Kapellen auf Nummer sicher.

Als Earl Hines 1964 eingeladen wurde, in New York Triokonzerte zu geben, nahm er die musikalische Herausforderung sehr ernst. Obwohl er 40 Jahre lang immer wieder auch Solo- und Trio-Aufnahmen als Pianist gemacht hatte, waren dies die ersten Konzerte, die sein Können am Klavier ganz in den Mittelpunkt stellten. Es war ein triumphales Comeback, das ihn in den Folgejahren zum Festival-Highlight erhob und ihm sogar Erfolge in Russland, Japan, Australien und Südamerika bescherte. Wie Hines in seinem letzten Lebensviertel die Zaubermacht seiner Hände vollends entfesselte, die alten Jazznummern mit improvisatorischem Esprit zergliederte, Melodiephrasen abbrechen ließ oder sie in wenige Töne auflöste, das weist ihn im Grunde als modernen Jazzpianisten aus. Ganz anders als sein ehemaliger Weggefährte Armstrong blieb der „Fatha“ bis zuletzt offen für neue Töne, gastierte mit Dizzy Gillespie auf Kuba, machte eine Duoplatte mit dem Klavier-Abenteuerer Jaki Byard und spielte sogar Stücke von modernen Kollegen wie Monk, Zawinul und Horace Silver ein. Earl Hines bewies die angeborene Souveränität echten Jazz-Adels.

© 2003, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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