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Angeblich hat er ein Notizbuch, in dem er jede seiner Platten vermerkt hat. Aber die Zeit, sie einmal nachzuzählen, fehlt uns beim Interview natürlich. Wie viele Platten waren es? Wir einigen uns auf: "sehr, sehr viele". Der unaufdringliche Pianist und originelle Stückeschreiber Cedar Walton gehört seit Jahrzehnten zu den gefragtesten Mitspielern im Mainstream-Jazz.

Cedar Walton
Smooth And Solid
(2002)

Von Hans-Jürgen Schaal

Der Mann muss mehrere Doppelgänger haben. Denn immer und immer wieder, wenn in den letzten 40 Jahren gute Musik aufgenommen wurde, war Cedar Walton zur Stelle. Er begleitete John Coltranes erste Riesenschritte (auf Atlantic), gehörte den Jazz Messengers an, als Wayne Shorter dort die Weichen ins Innovative stellte (auf Riverside), spielte für Joe Henderson die "Mode For Joe" (auf Blue Note) und solierte auf Freddie Hubbards Großwerk "The Body And The Soul" (auf Impulse!). In den 60er-Jahren galt Cedar Walton als der perfekte Sideman am Klavier: bluesig, boppig, funkig. Zwar machte er 1966 auch seine erste eigene Platte ("Cedar!"), und rund 50 (!) weitere unter seinem Namen folgten, aber noch immer gilt Walton in erster Linie als "Solid Comper", als verlässlicher Klavierbegleiter. Hat man ihn als Bandleader zu wenig gewürdigt? "Ach, es kümmert mich nicht viel, wofür die Leute mich halten", sagt der 68-Jährige mit freundlich entspannter Stimme. "Ich versuche so zu spielen, dass man hört, dass ich das Stück mag, und dass es so klingt, als würde ich es noch nicht kennen. Ich habe mich immer nur bemüht, eine ruhige Karriere zu machen und mich aus allem Ärger herauszuhalten."

Mit dieser Einstellung kommt man weit. Wen hat dieser Mann nicht alles begleitet: Sonny Rollins, J.J. Johnson, Abbey Lincoln, Dexter Gordon, Lee Morgan, Milt Jackson, Donald Byrd... Sogar für Charlie Parker saß er einst am Klavier, wenn auch nur ein paar Minuten lang: Das war Anfang der 50er-Jahre, als Walton noch in Denver Musik studierte und der in der Stadt gastierende Parker kurzerhand bei der Lokalband einstieg. Wenige Jahre später bekam der junge Pianist einen festen Job bei J.J. Johnson, dann im Jazztet von Art Farmer und Benny Golson und danach drei Jahre lang bei Art Blakey. Auch für Walton wurden die Messengers eine Art Highschool des Jazz: "Wir waren jung damals, in unseren Zwanzigern. Wir wurden von Art ständig zum Komponieren und Arrangieren ermuntert. Und dann haben wir das auch gleich unter seiner Anleitung spielen können. Wir spielten mit den Großen und durften es sofort aufnehmen. Es waren die bestmöglichen Bedingungen."

Es war Blakey, der Cedar Waltons Talent als Komponist weckte und gleich zwei seiner Stücke zu Plattentiteln machte: "Mosaic" und "Ugetsu". Auch bei anderen Bandleadern durfte der Pianist Walton häufig eigene Stücke einbringen, denn die klangen immer komplex und eingängig, originell und vertraut zugleich. Kein Wunder, dass selbst große Vokalisten wie Abbey Lincoln, Kevin Mahogany und Vanessa Rubin seine Stücke entdeckten. Ob "The Maestro", "Head And Shoulders", "Midnight Waltz" oder "Bolivia", alle diese raffinierten Ohrwürmer haben das Zeug zum Jazz-Standard. Auch die Originals auf der neuesten CD des Pianisten, "The Promise Land" (HighNote/sunny moon), sind fast durchweg Walton-Klassiker. Das gospelig-hardboppige Titelstück war vor 40 Jahren schon auf einem Live-Album der Messengers zu hören. "N.P.S." gehörte zu Milt Jacksons Repertoire, "Back To Bologna" erinnert noch einmal an Waltons 70er-Jahre-Band Eastern Rebellion, "Thirty Degrees To The Wind" hat Walton seit mehr als zwei Dekaden im Programm.

Das neue Album bestätigt Cedar Walton als verlässlichen, fundamentalen Mainstreamer. Gestählte Themen in bester Messengers-Manier, unspektakuläre Soli im typischen Van-Gelder-Sound, extra dry. Die wirklichen Leckerbissen der Platte verbergen sich in den Details der Arrangements. Ein "Body And Soul" als Bossa Nova, "Darn That Dream" mit wechselnden Metren, "I'll Know" im Bop-Groove oder Waltons "Thirty Degrees" mit Flöte und Reggae-Touch stellen nachdrücklich unter Beweis, dass auch Mainstream-Jazz originell und flexibel sein kann. "Super, dass du das so empfindest", freut sich Walton. "Ja, ich kann mich einfach nicht vom American Songbook trennen, aber es entstehen da immer wieder neue Ideen. Was ich bei 'Body And Soul' oder 'Smoke Gets In Your Eyes' gemacht habe, das war jeweils ein Augenblicks-Einfall. Das lauerte wohl irgendwo seit langem in meinem System und wartete auf den richtigen Moment."

Das Klaviertrio plus Saxofon gehört zu Cedar Waltons klassischen Formaten. Mit Billy Higgins und Sam Jones bzw. dessen Nachfolger David Williams bildete er drei Jahrzehnte lang ein magisches Trio, das immer wieder auch große Solisten begleitete: Hank Mobley, Clifford Jordan, Bob Berg, George Coleman. Dass er den 37-jährigen Altisten Vincent Herring wählt, um in solche Fußstapfen zu treten, ist eine besondere Auszeichnung. "Vince wächst hinein", sagt Walton mit Bestimmtheit. "Er gehört einfach einer späteren Generation an, und mit jedem Jahr Jazz-Geschichte müssen die Jungen mehr lernen: Sie müssen sich alles aneignen, was vorher gewesen ist. Vince erinnert mich sehr an Cannonball und nicht umsonst hat er so viel mit Nat Adderley gespielt. Unser Quartett ist eine Working Band. Wir spielen immer die Weihnachts-Wochen im Village Vanguard, wir waren auch beim North Sea Jazz Festival und in Italien."

Billy Higgins' Platz hinter den Trommeln hat vor zwei Jahren Kenny Washington übernommen, aber der langjährige Partner ist natürlich unvergessen. "Mit Billy war man immer vom ersten Moment an in der Musik drin. Da hat man sich nicht allmählich warm gespielt." Welchen der alten Weggefährten vermisst Walton am meisten? "Eddie Harris. Wir waren gemeinsam in Deutschland stationiert, in den Fünfzigern. Er war ein großer Musiker, schon seine erste Platte war ein Millionenseller. Ich vermisse natürlich auch die anderen: Harold Land, Billy Higgins, Sam Jones, Dizzy Gillespie, Milt Jackson...". Und dann, der Vergangenheit nachsinnend, erkundigt sich Walton nach dem Domicile in München, dem legendären Jazzclub, wo er früher so oft auftrat. "Wie hieß der Typ, der das managte? Gibt's den noch? Sag ihm einen Gruß von mir." Was ich hiermit tue. Ich hoffe, Ernst, du liest es.

© 2002, 2017 Hans-Jürgen Schaal


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