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Trotz gelegentlicher Vorurteile gegenüber den Franzosen: Auch in Amerika träumt man von der Stadt der Liebe und der Kunst. Nach dem II. Weltkrieg wurde Paris sogar zur größten Dépendance des US-Jazz.

„I love Paris“
Amerikanischer Jazz an der Seine
(2013)

Von Hans-Jürgen Schaal

Schon um 1920 bildeten sich in Paris ganze „Kolonien“ von amerikanischen Musikern und Schriftstellern – darunter Ernest Hemingway. Der Songschreiber Cole Porter („I Love Paris“) lebte fast die ganzen Zwanzigerjahre dort und schuf später mehrere Musicals mit Pariser Flair. Auch George Gershwin feierte die Stadt 1928 in seinem Orchesterwerk „Ein Amerikaner in Paris“. Die freizügige Charleston-Sensation Josephine Baker wurde 1937 sogar dauerhaft zur Französin. Vor allem die Jazzmusiker mochten die Stadt an der Seine, wo man ihrer Musik von Anfang an mit großer Begeisterung begegnete. Die ersten Jazzmagazine und Jazzdiskografien erschienen in Frankreich, nicht in den USA. Jazzpioniere wie Sidney Bechet, Sam Wooding und Eddie South lebten zwischen den Kriegen jahrelang in Paris. Stars wie Louis Armstrong, Duke Ellington und Coleman Hawkins gastierten hier bereits in den frühen Dreißigern. Sie ließen es sich auch nicht nehmen, in Paris mit dem ersten europäischen Musiker zu jammen, den sie als Jazz-Original anerkannten: dem Manouche-Gitarristen Django Reinhardt.

Gleich nach dem II. Weltkrieg steigert sich die Jazz-Begeisterung in Paris ins Unermessliche. Schon die Befreiung der Stadt durch die Amerikaner wird 1944 vom „French Welcome Committee“ mit Jazz gefeiert. In Frankreich finden in der Nachkriegszeit die ersten großen Jazzfestivals überhaupt statt, so in der Salle Pleyel das „Festival International 1949 de Jazz“. Sidney Bechet tritt dort auf und lässt sich danach dauerhaft in Frankreich nieder, wo man ihn als „Le Dieu“ verehrt. Auch für den Trompeter Miles Davis beginnt mit dem Festival eine enge Beziehung zu Paris, begleitet von einer wechselvollen Affäre mit der Sängerin und Schauspielerin Juliette Gréco. „Ich war noch nie so glücklich in meinem Leben“, erzählt Miles später. „Es war ein völlig neues Gefühl: die Freiheit, in Frankreich zu sein und als Mensch behandelt zu werden. Sogar der Sound unserer Band und die Musik waren hier besser.“

Zahlreiche Jazzmusiker aus den USA – vor allem Afroamerikaner – siedeln in den 50er- und 60er-Jahren nach Paris um. Viele von ihnen kennen die Stadt schon von Konzertauftritten, manche auch aus ihrer Armeezeit im Krieg. Ihre Gründe, beruflich den Schritt über den großen Teich zu wagen, sind unterschiedlich, doch drei Motive kehren immer wieder: der vergleichsweise geringe Rassismus in Paris, der Respekt der Franzosen vor dem Jazz und das französische „savoir vivre“.

Der Saxofonist Sonny Criss sagte über seine Pariser Zeit: „Ich muss zugeben, dass ich vollkommen entspannt war. Das Resultat? Ich spielte, wie ich nie zuvor gespielt hatte.“ Der Klarinettist Mezz Mezzrow behauptete: „In Frankreich wirst du wie ein Künstler behandelt und nicht wie ein Penner.“ Auch der Saxofonist Lucky Thompson schüttelte in Europa seine Frustrationen ab: „Es gab keine sozialen Barrieren. In Frankreich hatte ich sogar meine eigene TV-Show.“ Der Jazz-Arrangeur Quincy Jones sagte: „Die Atmosphäre in Paris ist so entspannt, dass einem die Arbeit leicht fällt.“ Der Saxofonist Johnny Griffin meinte: „In den Staaten war ich in der Tretmühle. Die Franzosen dagegen hatten diese Attitüde, die Dinge ‚doucement‘ anzugehen, langsam, entspannt. So machte ich auch langsamer und fing an, das Leben zu genießen.“

Einer der Ersten, die nach dem Krieg nach Paris gingen, war der Tenorsaxofonist Don Byas, dessen elegante Interpretation der Ballade „Laura“ ganz den französischen Geschmack traf. Sein Saxofonkollege Benny Waters trat 15 Jahre lang regelmäßig im Jazzclub „La Cigale“ auf. Der Schlagzeuger Art Taylor konnte in Europa auch als Dressman und Publizist arbeiten. Der Pianist Kenny Drew wusste sofort: „Ich würde unter keinen Umständen zurückgehen.“ Bald bildeten die amerikanischen „Ex-Patriates“ eine so große Jazzszene in Paris, dass jeder durchreisende Musiker mühelos eine erstklassige Band aus Amerikanern zusammenstellen konnte. 1964 erschien Dexter Gordons neues Hardbop-Album „One Flight Up“ auf dem New Yorker Label „Blue Note“. Mit dabei waren die amerikanischen Top-Kollegen Donald Byrd, Kenny Drew und Art Taylor. Doch entstanden ist die Platte in den CBS Studios von Paris.

Schon als 12-Jähriger – im Waisenhaus in Pittsburgh – hatte Kenny Clarke von Paris geträumt. Dreißig Jahre später wanderte der Bebop-Drummer dorthin aus und wurde um 1960 zur Leitfigur der Pariser Jazzszene. Jahrelang arbeitete er für 150 Francs pro Nacht als Hausdrummer im Pariser „Blue Note“, die Hälfte seines Lebens sollte er schließlich in Frankreich verbringen. Clarke eröffnete sogar eine Schlagzeug-Schule am Pariser Konservatorium. Das hohe Ansehen des Jazz in Paris erklärte er so: „Die Franzosen haben den Jazz immer als eine Erweiterung ihrer Kultur empfunden. Er geht zurück auf New Orleans und die Kreolen und Cajuns. Die haben schon immer Französisch gesprochen.“ Clarkes Spiel erklingt auch auf dem Soundtrack einiger französischer Kinofilme wie „À bout de souffle“ (Jean-Luc Godard) und „L’ascenseur pour l’échafaud“ (Louis Malle). Die Regisseure des „film noir“ liebten den Sound des modernen Jazz genauso wie die Pariser Existenzialisten – allen voran Jean-Paul Sartre.

Ein späterer Film machte die Jazzszene der „Americans in Paris“ selbst zum Thema: Bernard Taverniers „Round Midnight“ von 1986. Der Saxofonist Dexter Gordon, der selbst mehr als zehn Jahre in Europa gelebt hat – in Paris, London und Kopenhagen –, spielt darin den fiktiven Jazzmusiker Dale Turner. In die Geschichte eingeflossen sind Motive aus dem Leben des Pianisten Bud Powell, der 1959 nach Paris zog, alkoholkrank und mental zerrüttet, und von einem französischen Jazzfan, Francis Paudras, fünf Jahre lang rührend betreut wurde. Powell bedankte sich bei ihm und Paris mit Stücken wie „Una Noche Con Francis“, „Parisian Thoroughfare“ und „Blues For Bouffémont“.

Die Kolonie der amerikanischen „Ex-Patriates“ hat Paris ein reges Jazzleben und große Konzertereignisse geschenkt und inspirierte viele französische Musiker. Mit der Zeit wurde es für die „Américains“ jedoch zunehmend schwierig, die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten, da immer mehr von ihnen in Paris auftauchten und einander Konkurrenz machten. Gleichzeitig wurden sie aber auch im Heimatland des Jazz kaum mehr wahrgenommen. Don Byas galt bis zu seiner Auswanderung nach Europa als einer der drei größten Tenoristen des Jazz; heute spielt er in den Geschichtsbüchern fast keine Rolle. Die Kenny Clarke-Francy Boland Big Band ¬¬– mit einem halben Dutzend amerikanischer „Ex-Patriates“ – war eines der besten Jazzorchester ihrer Zeit; in den USA war die Band nicht ein einziges Mal zu hören.

© 2013, 2020 Hans-Jürgen Schaal


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