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Er war der kleine Riese des Swing. Chick Webb, obwohl kleinwüchsig und behindert, wurde zum Vorbild aller Swingdrummer und scheute mit seiner Band keinen Vergleich. Im Tanzpalast des Savoy regierte er als ein unumstrittener König.

Der König des Savoy
Chick Webb (1905-1939)
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Seine Startbedingungen waren denkbar schlecht. Aufgrund einer Tuberkulose des Rückenmarks und eines Treppensturzes im Kindesalter war William Henry Webb stark körperbehindert. Bucklig, verwachsen, steifbeinig, erreichte er nicht einmal 1,30 Meter Körpergröße. Schon das Kind war auffällig klein und erhielt daher den Spitznamen „Chick“ (Hühnchen). Therapeutische oder erzieherische Mühen hat man sich mit dem armen Krüppel aus einer mittellosen schwarzen Familie nicht groß gemacht: Der „größte Drummer unserer Zeit“ (so sein Kollege Dave Tough) konnte nicht nur keine Noten lesen, sondern war vermutlich ein kompletter Analphabet. Nicht einmal sein Geburtsjahr ist gesichert. Zum Glück besaß Chick Webb aber ein überragendes musikalisches Gedächtnis: Er hatte alle Arrangements seiner Band im Kopf und konnte seinen Musikern ihre Parts einzeln vorsummen. Nach Konzerten überraschte er seine Solisten sogar damit, dass er ihre besten Soli des Abends Ton für Ton nachsang. Er redete viel, aber immer nur über Musik; nichts anderes interessierte ihn. Dieser Behinderte war ein Musikkämpfer mit übermenschlichem Willen.

Ein wohlmeinender Arzt in Baltimore empfahl, das Kind solle Schlagzeug spielen, um seine Muskeln zu stärken. Fortan besaß Chick immer eine Ausrede, wenn er sich trommelnd auf Töpfen und Pfannen austobte. Mit 10 Jahren hatte er sich als Zeitungsjunge genug Geld für ein eigenes Drumset verdient, glänzte bald als Tricktrommler an der Straßenecke, machte an Wochenenden bei Tanzbands auf Ausflugsschiffen mit und gründete mit anderen Jugendlichen die Jazzola Band. Der Gitarrist der Band, sein Freund John Trueheart – nomen es omen –, nahm Chick 1924 mit nach New York, wo sie sich als Musiker durchschlagen wollten.

Im Jahr 1926 bekam Duke Ellington ein Engagement im Black Bottom Club angeboten. Da er mit seiner Band aber ausgebucht war, vermittelte er dem Veranstalter einen Ersatz: eine Hand voll Musiker um Webb und Trueheart, die sich Harlem Stompers nannten. Weil Webb der optisch Auffälligste war und zudem nicht auf den Mund gefallen, wählten sie ihn zum Bandleader. Ellington, der 15 % mitkassierte, machte ihm Mut: Die Aufgabe des Bandleaders sei einfach nur, das Geld einzutreiben – und das traute sich Webb zu. Mit erst fünf, dann acht, dann elf Mann trommelte er sich durch die Klubs. Leicht hatte er es freilich nicht: Veranstalter nutzten weidlich seine körperliche Schwäche und seine Gutmütigkeit aus, Musiker hatten kaum Skrupel, sich abwerben zu lassen – darunter sein Cousin Johnny Hodges, der zu Ellington ging. Doch Chick Webb gab nicht auf. Selbst als Ellington und Basie ihn in den Depressions-Jahren als Schlagzeuger haben wollten, lehnte er stolz ab. Mit einer kleinen Schar Getreuer hoffte er auf bessere Zeiten.

Zu Recht: Chick Webb sollte sich als „der größte geborene Bandleader“ erweisen, wie Cootie Williams ihn nannte. Mit seinem dynamischen Swing und seinen fantasievollen Breaks kontrollierte er die Musik und riss seine Leute zu Höchstleistungen mit. „Man konnte noch so müde zur Arbeit kommen, er brachte einen in Stimmung“, sagte Saxophonist Teddy McRae. Trotz seiner relativ kleinen Besetzung scheute Webb keinen Wettstreit mit den großen Tanzbands: Seine explosive, begeisterte Formation behauptete sich schon 1927 bei einer „Battle of Jazz“ im Savoy Ballroom gegen die Orchester von Fletcher Henderson und King Oliver, in den Folgejahren auch gegen Charlie Johnson, Duke Ellington und Cab Calloway, um nur die namhaftesten Kontrahenten zu nennen. Webb war als „Killer der Giganten“ gefürchtet, als „Tänzer auf den Trommeln“, der die Tänzer auf dem Parkett sicher im Griff hatte. Auch als Entertainer gewann er ihre Herzen: Sein Stil, die Musik anzusagen, hieß bald „Spinning the Web(b)“.

Endlich ging es aufwärts für Chick Webb: Plattenaufnahmen mit Louis Armstrong und ein Besucherrekord – 4.600 Personen bei einem Vormittags-Tanzvergnügen – bescherten dem Chick Webb Orchestra ab 1933 ein dauerhaftes Engagement als Hausband des Savoy Ballroom. Edgar Sampson komponierte und arrangierte die ersten Hits – „Stompin’ at the Savoy“, „Blue Lou“ – und wurde Saxophonist in der Band. Die fünf Blechbläser – darunter Taft Jordan, Mario Bauzá und Sandy Williams – wurden als „The Five Horsemen“ gefeiert. Mit seinen ungewohnt schnellen Tempi, seinen spektakulären Breaks, seiner mitreißenden Energie, der präzisen Satzarbeit seiner Band und dem hingebungsvollen Spiel seiner Solisten wurde Chick Webb zum Wegbereiter des neuen Stils: des Swing. Für die Swing-Drummer wie Cozy Cole, Gene Krupa, Jo Jones, Buddy Rich, Louie Bellson, aber auch für Art Blakey und Max Roach wurde „der kleine Riese“ zum großen Inspirator. Cozy Cole erzählt: „Wir kamen immer alle ins Savoy. Er war der Anfang, er brachte uns alle auf den Weg.“

Chick Webbs Schlagzeugspiel steckte voller Innovationen. Als Erster hat er im Drumset die „Demokratie“ eingeführt: In kurzen Breaks setzte er selbst bei höchstem Tempo bis zu sieben Instrumente mit exakter Schlagstärke ein. Die Transparenz seines vielschichtigen Spiels war sprichwörtlich: Jeder Akzent saß. Der enorme Drive, mit dem er die Band vorantrieb, beruhte keineswegs auf Lautstärke, denn auch in Uptempos kam er zuweilen nur mit Besen und Snare zurecht. Unverkennbare Markenzeichen waren die Explosivität seiner Presswirbel, sein knackiger Snare- und Cymbal-Sound, seine Hi-Hat-Behandlung, seine Rimshots und seine exakten schnellen und langsamen Wirbel (selbst auf der Basstrommel). Fürs Stimmen seiner Trommeln nahm er sich stundenlang Zeit. Wegen seines Handicaps benötigte Webb allerdings eine Sonderausrüstung: Er steuerte die Band von einem hohen Podest herab, benutzte für seine 28-Inch-Basstrommel spezielle Pedale und für die Becken eine Gänsehals-Aufhängung. Die Ansagen überließ er bald einem Sänger oder MC, weil das Klettern aufs und vom Podest zu anstrengend wurde.

Ab 1936 trat Chick Webb immer mehr als Solist in Erscheinung und ließ sich in Features wie „Go Harlem“, „Clap Hands, Here Comes Charlie“ oder „Harlem Congo“ feiern. Mit John Kirby (Bass) und John Trueheart (Gitarre) bildete er eine traumhafte Rhythmusgruppe. Seinen Ruf als „König des Savoy“ verteidigte er 1937 in mehreren legendären Battles, auch wenn der Ausgang nicht immer eindeutig war: gegen Henderson (Februar), Ellington (März), Basie (April), Goodman (Mai). Die Pianistin Mary Lou Williams berichtet: „Jede Gastband musste damit rechnen, vom kleinen Chick in Grund und Boden getrommelt zu werden. Er war ein immenser Schlagzeuger, raffiniert und schwer zu toppen. Er wartete, bis die Gegenpartei ihre heißesten Nummern abgefeuert hatte, und wenn sie gerade mittelmäßig spielten, brachte er unerwartet seine Band aufs Podium zurück und ließ ein tolles Arrangement vom Stapel, etwa Benny Carters ‚Liza’. Nur wenige Gastorchester kamen da mit.“

Vor allem die Band-Battle am 11. Mai 1937 gegen Benny Goodman, den selbst ernannten weißen „King of Swing“, schlug hohe Wellen. 5.000 Besucher mussten wegen Überfüllung abgewiesen werden. Schlagzeugkollege Buddy Rich erinnert sich an das Duell im Savoy: „Der größte Solist, den ich je am Schlagzeug hörte, war Chick Webb. Gene Krupa war damals der Drummer bei Goodman – und er hat sich von dem Schock nie erholt. Die Goodman-Band spielte etwa eine Stunde vor dem Ende ‚Sing, Sing, Sing’. Benny hatte alle seine Trumpfkarten gezogen, und schließlich zog Gene seine Show ab und nahm den Saal auseinander. Die Leute kreischten. Es gab zwei Bühnen, und als die Goodman-Band aufhörte, begann Chick sofort mit ‚Liza’, und das war etwa doppelt so schnell wie ‚Sing, Sing, Sing’. Chick Webb spielte darin ein 20-minütiges Solo – und Gene Krupa hätte ihn am liebsten gekillt!“ Krupa, zu dem Webb „wie ein Vater“ war, bestätigt: „Er hat mich fix und fertig gemacht. Ich bin nie von einem besseren Mann geschlagen worden.“

Ein anderer großer Schachzug gelang Chick Webb schon 1933: Da engagierte er als Bandsängerin ein 16-jähriges Waisenmädchen, das verschüchtert, ungewaschen und in abgerissenen Kleidern einen Amateurwettbewerb in Harlem gewonnen hatte. Weder Webbs Musiker noch die Leitung des Savoy noch seine Plattenfirma wollten Webbs Entscheidung damals akzeptieren. Doch er ahnte in dem Mädchen etwas Besonderes, machte sie Schritt für Schritt zum vollwertigen Mitglied der Band und entließ sogar seinen populären Sänger Louis Jordan, weil der ihr auf der Bühne die Schau stahl. 1938 wurde das Mädchen erstmals als „First Lady of Swing“ gefeiert. Ihr Name: Ella Fitzgerald. Ihr albernes Liedchen „A-Tisket, A-Tasket“ (mit „Liza“ als B-Seite) stand in jenem Sommer vier Monate lang auf Platz 1 der Charts und bescherte dem Webb-Orchester Gagen-Rekorde. Der Drummer, dem seine Krankheit seit Jahren unausgesetzt Schmerzen bereitete, hatte sich eine Nachfolgerin aufgebaut. Als Webb im nächsten Jahr nach einer Operation starb, sang Ella an seinem Grab „My Buddy“, rührte alle zu Tränen – und übernahm die Leitung der Band.

© 2006, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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