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ZurückDie Symphonien von Brahms (leider sind es nur vier!) zählen zum Schönsten, was die Musikgeschichte hervorgebracht hat.
– Doris Blaich (SWR)

Kleeblatt der Symphonien
Ein Brahms-Projekt
(2017)

Von Hans-Jürgen Schaal

Bei vielen Komponisten – Haydn, Beethoven, Mahler, Dvořák, Bruckner u.a. – erstreckte sich die Vollendung ihrer Symphonien jeweils über einen längeren Lebenszeitraum von mindestens zwei Jahrzehnten. Johannes Brahms (1833-1897) bildet da eine Ausnahme. Zwischen der Uraufführung seiner ersten (1876) und der seiner letzten Symphonie (1885) lagen nur neun Jahre. Sein symphonisches Schaffen beschränkte sich ganz auf das mittlere Lebensalter zwischen Mitte 40 und Anfang 50, es gibt bei ihm kein symphonisches Früh- oder Spätwerk. Somit bilden die Brahms-Symphonien einen gleichberechtigten Viererblock, ein spätes Glückskleeblatt der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts. Die Erste und die Vierte – die eher „dramatischen“ Moll-Symphonien – wurden anfangs kontrovers rezipiert, später aber besonders geschätzt. Die Zweite und die Dritte – die eher „pastoralen“ Dur-Symphonien – wurden zu ihrer Zeit begeisterter aufgenommen, aber später ein wenig vernachlässigt. Heute erscheinen die Gegensätze nicht mehr so sehr gewaltig: In allen vier Symphonien steckt jeweils der ganze Brahms – Drama und Aufhellung, Heiterkeit und Melancholie, Kunsthandwerk und Dynamik. Wie schön, dass sich die vier großen Ruhrgebiets-Orchester darauf verständigt haben, das wertvolle symphonische Kleeblatt in einer wahrlich konzertierten Aktion komplett zu präsentieren. Diesem ganz besonderen Brahms-Projekt angemessen sind auch Rahmen und Anlass: Es ist Saisonabschluss im neuen Bochumer Haus.

***

Schon mit 20 Jahren dachte Johannes Brahms über eine erste Symphonie nach. Alle paar Jahre machte er einen neuen Anlauf, sie zu komponieren. Daraus entstanden ein Klavierkonzert (1859), zwei Orchesterserenaden (1860), ein genialer Zyklus von Orchestervariationen (1874) – nur eben keine Symphonie. Brahms wehrte sich gegen konkrete An- und Nachfragen. Ganz offensichtlich gab es da bei ihm eine psychische Hemmschwelle, ein Zurückschrecken vor der Vollendung – und das hatte wohl mehrere Gründe.

Erstens stand das gewaltige Lob Robert Schumanns im Raum, der den jungen Komponisten früh schon als Schöpfer zukünftiger großer Symphonien angekündigt hatte. Solche Vorschusslorbeeren können die Erwartungen, den Leistungsdruck, den Anspruch an sich selbst ins Maßlose treiben.

Zweitens gab es den einschüchternden Schatten des großen Symphonikers Beethoven, der Brahms’ absolutes Idol war. Der junge Brahms war sich sehr bewusst darüber, dass Symphonien nach Beethoven „ganz anders aussehen müssten“. Er litt darunter, dass er immer den Riesen Beethoven „hinter sich her marschieren“ höre, und war schier am Verzweifeln: „Ich werde nie eine Symphonie komponieren!“ Als es ihm schließlich doch gelang, wurde das Ergebnis prompt als „die Zehnte“ (Hans von Bülow) angepriesen, als wäre Brahms lediglich ein Vollstrecker von Beethovens symphonischem Willen. Immer wieder sollten seine Symphonien mit Beethovens Dritter, Fünfter, Sechster oder Neunter verglichen werden. Der Schatten des Riesen verließ ihn nicht.

Der dritte Grund für Brahms’ symphonische Skrupel lag in seinem ureigenen Perfektionismus. Der Hanseate in ihm legte größten Wert auf handwerkliche Präzision und formale Strenge. Auch als Mensch wirkte Brahms oft ernst, diszipliniert und düster – er gestand, dass er „innerlich nie lache“. Als Wahl-Wiener (ab 1872) begegnete er daher dem Laissez-faire in der Donau-Monarchie mit einer gewissen Hassliebe. Die formal ausufernden Symphonien seines österreichischen Kollegen Anton Bruckner (der Beethoven übrigens genauso verehrte und lange Zeit unter ähnlichen Skrupeln litt wie Brahms) nannte er abschätzig „symphonische Riesenschlangen“.

Brahms’ Detailverliebtheit, seine Vorliebe für dichtes, konzentriertes, kunstfertiges Komponieren, brachte seine Musik einst sogar in den Ruf, allzu ernsthaft, unsinnlich und melodienarm zu sein. Im Musikstreit mit den „Neudeutschen“ (Wagner, Liszt, Strauss) beharrte Brahms auf der Idee der absoluten, programmfreien Musik. Auch hielt er weitgehend am klassischen Beethoven-Orchester fest – gegen die damals in Mode gekommenen romantischen „Klangmassen“ – und wich nicht von der konventionellen viersätzigen symphonischen Form ab. Heute erkennen wir das Zukunftsträchtige in Brahms’ Ästhetik – eine Schlankheit und Sachlichkeit, die ins 20. Jahrhundert vorausweisen, eine clevere Erkundung tonaler Möglichkeiten, die neue Organisationsformen des Musikalischen vorbereitet. Schon Arnold Schönberg feierte Brahms als Modernisten.

1876 war es dann endlich so weit: Johannes Brahms, 43-jährig, präsentierte doch noch seine Erste Symphonie, deren Entwürfe bis ins Jahr 1862 zurückreichten. Seinem Musikverleger schrieb er, es sei an den Wissower Klinken, den berühmten Kreidefelsen auf Rügen, „eine schöne Symphonie hängen geblieben“. Dort – in Sassnitz auf Rügen – hatte Brahms nämlich seinen Sommer verbracht und konzentriert an der Symphonie gearbeitet. Zur Vollendung reiste er zu seiner lebenslang verehrten Freundin Clara Schumann nach Lichtental bei Baden-Baden.

Als der Bann gebrochen war, entstand gleich im nächsten Jahr schon die Zweite Symphonie (1877), und zwar wiederum in der Sommerfrische, die ihn diesmal zum Wörthersee und erneut nach Lichtental führte. Die Sommerzeit wurde überhaupt Brahms’ Symphonien-Saison. Seine Dritte verdankte sich dem Sommer 1883 in Wiesbaden, wo er Gast eines Weingutsbesitzers war, der auch musizierte. In den beiden folgenden Sommern – Brahms verbrachte sie in Mürzzuschlag bei Wien – komponierte er seine Vierte (1885). In einem Brief sprach er die Hoffnung aus, es möge dieses Werk besser schmecken als die sauren Kirschen der Mürzzuschlager Gegend.

1. Symphonie in c-Moll, op. 68 (1876)

Alles beginnt schon in höchster Spannung. Wie sich in den ersten Takten die Klangschichten chromatisch verschieben, das war 1876 ein ganz neuer Tonfall und lässt noch heute aufhorchen. Chromatische Rückungen – hoch dramatisch, hoch expressiv – sind das eigentliche Kernmotiv des ersten Satzes. In der entwickelnden Verarbeitung jedoch klingt fast unwillkürlich der Beethoven’sche Gestus an. Die Rhythmen, die melodische Phrasierung, die Dynamik, die Klangfarben erinnern immer wieder an Brahms’ großes Vorbild. So sehr sich Brahms von ihm zu emanzipieren wünschte – verleugnet hat er Beethoven nie. Im Schlusssatz der Symphonie dominiert ein Jubelthema, das unüberhörbar an die „Ode an die Freude“ aus Beethovens Neunter anknüpft. Die Dichterworte „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt“ laufen dabei stumm im Geist des Hörers mit.

Überhaupt scheint die innere Logik der 1. Symphonie dem Beethoven’schen Prinzip „Durch Kampf zum Licht“ noch nahe verwandt zu sein. Schon die Tonart c-Moll lässt an Beethovens Fünfte, die Schicksals-Symphonie, denken. Und wenn dann im 4. Satz, nach langsamer, dräuender, düsterer Einleitung, das Dur übers Moll siegt, die dunklen Gewitterwolken vertreibt und in forscher, ausufernder, fast übermütiger Weise seinen Triumph auskostet – wie sollte man da nicht an Beethoven denken? Eingeleitet wird der Umschwung zum C-Dur übrigens durch ein markantes Hornmotiv, zu dem Brahms in der Schweiz von einem Alphornbläser inspiriert wurde. Das soll im Jahr 1868 gewesen sein – ein weiterer Hinweis auf die lange Werdenszeit dieser Symphonie.

Bleiben noch die beiden Mittelsätze, ein Andante und ein Allegretto. Sie besitzen nicht die düstere Dramatik des Kopfsatzes oder des Finalbeginns, hier gibt es durchaus wärmende, aufhellende, begütigende Töne, einen Schuss Heiterkeit in der Melancholie. Vor allem im Andante klingt harmonisch ein wenig Wagner an – und auch ein wenig Mahler voraus. Solostellen der Bläser (Oboe, Klarinette, Horn) verbreiten friedliche Botschaften, das Allegretto darf man sogar romantisch nennen. Den ersten Rezipienten war diese Symphonie freilich nicht romantisch genug. Sie vermissten die schwärmerischen Melodien, das Sinnliche, Liebenswürdige, auch das Epische – denn das Publikum erwartete damals, dass Orchestermusik einem außermusikalischen Programm folgt. Noch Jahrzehnte später wurde nach verborgenen Bedeutungen in Brahms’ Erster gesucht. Erzählt sie etwa die Geschichte seiner Beziehung zu Clara Schumann?

Brahms, auch darin Modernist, enttäuschte solche Erwartungen. Für Brahms war anderes wichtig – etwa das insistierende Hin- und Herwenden und Fortentwickeln von Motiven, die er dabei allen denkbaren kompositorischen Kniffs unterzog. Man kann das als gebildeten Tiefsinn empfinden, aber auch als technische Verspieltheit. Der Komponist folgt der Faszination musikalischer Möglichkeiten und entwickelt daraus überzeugende dynamische Abläufe. Das spätromantische Publikum kannte solche Gründlichkeit eher aus der Kammermusik. Der Brahms-Dirigent Hans von Bülow dagegen prägte anerkennend das Wort von den drei großen „B“s – Bach, Beethoven, Brahms.

2. Symphonie in D-Dur, op. 73 (1877)

Auch wenn Johannes Brahms als Mensch häufig streng und verkniffen wirkte – er hatte Humor. Nachdem seine 1. Symphonie von manchen als zu karg, zu ernst, zu düster empfunden worden war, verkündete er, seine Zweite werde nun sogar ganz besonders traurig sein. Doch das war pure Ironie. Denn die 2. Symphonie, am sommerlichen Wörthersee entstanden, besitzt vieles, was das Publikum an der Ersten vermisst hatte: weiche, ausschwingende Linien etwa, ein heiteres Strömen, idyllische Sanftheiten. „Selten hat die Freude des Publikums an einer neuen Tondichtung so aufrichtig und warm gesprochen“ – so beschrieb der Kritiker Eduard Hanslick die begeisterte Reaktion auf Brahms’ Zweite. Während seine 1. Symphonie für „ernste Kenner“ gedacht sei, erwärme die Zweite „Kenner und Laien“ gleichermaßen. Die Nähe zu Beethoven allerdings spürte man auch hier wieder. Schon in den ersten Takten kann man sich an Beethovens Sechste, die „Pastorale“, erinnert fühlen. Mit der „Eroica“ wurde Brahms’ Zweite ebenfalls verglichen – in Teilen aber auch mit Schubert und Dvořák.

Im ersten Satz jedenfalls sind die musikalischen Zutaten für ein pastoral-romantisches Szenario schön versammelt. Flöte und Horn, diese beiden „Natur“-Klänge, spielen sich immer wieder in den Vordergrund, die Musik rauscht gefühlvoll im Dreivierteltakt dahin. Doch Brahms wäre nicht Brahms, hätte er nicht auch spannende Episoden und Verdichtungen eingebaut, in denen er sich kompositorisch festbeißt, um dramatische, gewagte Steigerungen herbeizuführen. Die Musik wogt melodisch von einem technischen Höhepunkt zum nächsten.

Das darauf folgende Adagio verzaubert vollends durch romantische Entspanntheit. In seiner feierlichen, sanglichen Idylle, in der man schon Mahlers „Naturton“ ahnen kann, gibt es wenige dynamische Ausreißer, die irritieren könnten. Ein weiterer Leckerbissen ist der dritte Satz – eine kapriziöse Allegretto-Miniatur im Walzertakt. Bläser und Streicher scheinen einander hier schalkhaft zu necken. Der Finalsatz schließlich ist nur noch Jubel – heiter und kraftvoll, brillant und feurig. Dieser Jubel ist ansteckend.

3. Symphonie in F-Dur, op. 90 (1883)

1883 – im Februar starb Richard Wagner, im Mai wurde Brahms 50 Jahre alt, im Sommer komponierte er die „Wiesbadener Symphonie“, wie er seine Dritte einmal nannte. Auch diese weitere Dur-Symphonie – die kürzeste der vier Brahms-Symphonien – besitzt durchaus romantische und pastorale Züge, verbindet sie aber mit einer elegischen Grundierung, die etwas Abgeklärtes und Nüchternes an sich hat. Jeder Satz endet leise, ohne Überredungswillen. Der Schwerpunkt liegt wiederum stark auf der kompositorischen Faktur, der technischen Feinarbeit, ohne dass Brahms dabei den Spannungsbogen verlieren oder jemals langatmig werden würde. Die nüchterne Disziplin war sein Rezept gegen zu viel Melancholie. Gleichzeitig enthält die Dritte aber auch einige seiner bezauberndsten, ausführlichsten Melodien. Clara Schumann glaubte aus dieser Musik sogar ein ländlich-idyllisches Programm herauszuhören. Der erste Satz, so meinte sie, erzähle vom Erwachen des Waldes am Morgen, der zweite von einem Gebet in einer Waldkapelle.

Im Kopfsatz steht die strenge und konsequente Seite von Brahms im Vordergrund. Ein Kernmotiv aus nur drei Tönen genügt ihm hier, um ein reiches orchestrales Leben zu entfalten – man spürt einmal mehr die entwickelnde Beethoven-Schule. Nicht umsonst wurden einige Aspekte dieser Symphonie gelegentlich mit Beethovens „Eroica“ und „Pastorale“ verglichen. Das Holzbläser-Thema im sanften Andante kommt dagegen fast volkstümlich bescheiden und fromm daher. Das Allegretto wiederum ist ein etwas schwermütiger Walzer, eine zu Herzen gehende Romanze voller Melodien.

Großes Gewicht liegt erneut auf dem Finalsatz, der einerseits enorme dramatische Höhepunkte, andererseits zauberhafte Themen bietet. Anders als in den ersten beiden Symphonien gibt es am Ende jedoch keinen strahlenden Jubel, sondern ein beinahe schon schicksalsergebenes Verharren in der Melancholie. Die 3. Symphonie ist ein besonders vielschichtiges und faszinierendes Werk, über dessen Gegensätze sich lange diskutieren und fantasieren lässt. Das war schon zu Brahms’ Zeiten so – und das machte die Dritte, so der Komponist, „leider allzu berühmt“.

4. Symphonie in e-Moll, op. 98 (1885)

Mit der Vierten beendet Brahms mit 52 Jahren sein symphonisches Schaffen. Er nimmt in dieser letzten Symphonie keine Rücksicht mehr auf den Geschmack der Zeit, er kümmert sich weder um „schöne Melodien“ noch „liebenswürdige Töne“, er lässt seiner strengen Eigenwilligkeit freien Lauf. Der erste Satz der Vierten besitzt nicht einmal ein richtiges Thema, sondern nur eine Terzenfolge als Ausgangspunkt. Mit dem sogenannten „Rittermotiv“ (in den Blechbläsern) kommt dann eine zweite Gestalt herein – aus diesen beiden Figuren entwickelt sich der gesamte, großartige, schicksalsschwere Kopfsatz.

Das folgende Andante – eine dunkle, schreitende Melodie – lässt an einen Trauermarsch denken, das e-Moll wandelt sich hier zum Kirchenmodus Phrygisch. Auch das Allegro giocoso (ein Scherzo im 2/4-Takt) ist ganz ungewöhnlich und wirkt – zumal angesichts des Komponisten – fast dämonisch schrill. Überdreht stürzt es daher, laut mit hohen Bläsern, Triangel, Pauke und Kontrafagott, ein wilder Trubel. Und das abschließende Allegro hat mit einer Sonatensatz-, Lied- oder Rondoform überhaupt nichts mehr zu tun. Es entpuppt sich als große Variationenfolge, eine Chaconne mit 30 neuen Melodien über ein Bassthema von Bach. So unzeitgemäß eine solche Passacaglia 1885 wirken mochte – auch hier war Brahms zukunftsweisend fürs frühe 20. Jahrhundert.

Ein Kopfsatz ohne Thema, eine schleppende Elegie, ein verrückt gewordenes Scherzo, eine Chaconne über ein Bach-Motiv, das alles in der „Trauer“-Tonart e-Moll – und das soll eine Symphonie sein? Selbst Brahms’ Freunde bestürmten ihn, das Werk umzuschreiben – natürlich vergebens. Bei seinen Kritikern kamen sogar viele alte Vorurteile wieder auf: Er kenne keine Melodien, er komponiere viel zu gelehrt, er sei ein alter Trauerkloß. So viel ist richtig: Die Vierte wirkt sehr ernst, selbst die Lustigkeit des dritten Satzes hat etwas Verzweifeltes. Aber die Vierte ist auch erhebend, gewaltig, einzigartig und unvergesslich. Der Musikwissenschaftler Michael Eidenbenz hat es so formuliert: „Keiner konnte beglückendere traurige Musik schreiben als Brahms.“

© 2017, 2021 Hans-Jürgen Schaal


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