Die vierundzwanzigste Hörhilfe 9.11.07
Charles Mingus
Tijuana Moods (1957)
Der echte, der ganze Mingus trat ziemlich unvermittelt zum Jahreswechsel 1955/56 auf den Plan: ein Komponist, Bandleader und Bassspieler, der nicht nur in großen Formen und konträren Linien denkt, sondern auch in wilden Kontrasten, grellen Farben und zornigen Ausbrüchen. Innerhalb von zwei, drei Jahren entwickelte Mingus eine unverkennbare, höchst vitale, fast gewalttätige Stilistik: eine Ensemble-Sprache, die auf dynamische Gegensätze, explosive Tutti, ständige Rhythmuswechsel, geordnetes Chaos und dramatische Kollektivimprovisation baut. Und nicht zuletzt auf einen emanzipierten Kontrabass, der immer öfter eine Gegenmelodie spielt, unbegleitet hervortritt und mit schwerem, bärigem Ton die Richtung vorgibt. Dieses Stilkonglomerat bot Einflüssen von Ellington und Strawinsky Platz und buk Gospel und Blues und die ganze Jazz-Geschichte mit ein. Die Neu-Definition ungebärdiger Jazz-Archaik. Und zugleich Vor-Alarm zum Free Jazz.
Die ungewöhnlichste Platte aus dieser Umbruchzeit heißt „Tijuana Moods“. Aufgenommen wurde sie im Sommer 1957 in New York mit drei Bläsern (Altsax, Trompete, Posaune) und einer erweiterten Rhythmus-Sektion. Konzipiert wurde sie zu Beginn desselben Jahres in der mexikanisch-kalifornischen Touristen-Grenzstadt Tijuana, wo Mingus angeblich seinen Liebeskummer vergessen und über seine Depressionen hinwegkommen wollte – vor allem durch den Besuch von Bordellen und Striptease-Lokalen. Als (zuweilen schockierten) Begleiter nahm er Dannie Richmond mit auf die Reise, seinen neuen Schlagzeuger und musikalischen Ziehsohn. Bis zu Mingus’ Tod 1979 sollte Richmond sein engster und wichtigster Mitstreiter bleiben, sein verlängerter Arm, der all die komplexen Wechsel in Lautstärke, Rhythmus und Tempo in nahezu telepathischer Verständigung mitvollzog.
„Tijuana Moods“ ist ein erster Triumph dieser Zusammenarbeit zwischen Bass und Drums: eine Platte, die von mexikanischen Tänzen inspiriert ist und die Kontrastierung, Verschränkung und Überlagerung verschiedener Rhythmen zelebriert. Deutlich von der Mexiko-Reise inspiriert sind die beiden Hauptstücke der Platte, „Ysabel’s Table Dance“ und „Los Mariachis“, die jeweils die 10-Minuten-Grenze überschreiten. Der „Table Dance“ (nach einer Striptease-Einlage im Nachtklub) basiert auf einer Pasodoble-Figur über zwei Harmonien: Mingus kontrastiert den Kastagnetten-Rhythmus mit anschwellenden und abbrechenden Kollektiv-Improvisationen, mischt boppende Soli und unbegleitete Rubato-Passagen hinein und präsentiert erst in der zweiten Hälfte sein eigentliches, elaboriertes Thema. Ähnlich feurig und teilweise expressiv bis zur Schmerzgrenze entwickelt sich die andere Miniatur-Suite, „Los Mariachis“. Hier werden populäre Klischees der Latin- und Kalypso-Musik mit satirischer Absicht gegen Momente bluesiger, jazziger Traurigkeit gesetzt. Auch heute noch ein gewaltiges, verstörendes Stück Musik.
Veröffentlicht in Image Hifi 6/2002
© 2002, 2007 Hans-Jürgen Schaal
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