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Hervorgekramt:
Rezensionen von CD-Neuheiten aus dem Jahr 1996
(zuerst erschienen in Jazz thing, Fono Forum u.a.)

Alle Texte: Hans-Jürgen Schaal

A

Muhal Richard Abrams
siehe: Oliver Lake

B

Chet Baker
Lonely Star
Stairway To The Stars
On A Misty Night (alle: Prestige)

Viele nannten Baker einen Miles-Klon, aber die Produzenten schlugen daraus Kapital. An zwei Tagen im März und Oktober 1956 nahm Miles mit seinem Quintett die legendären Prestige-Alben "Workin'", "Relaxin'", "Steamin'" und "Cookin'" auf. An drei August-Tagen im Jahr 1965 schuf Chet Baker mit seinem Quintett Material für fünf Alben, und Prestige taufte sie prompt "Smokin'", "Groovin'", "Comin' On", "Cool Burnin'" und "Boppin'" - reichlich hitzige Titel für einen angeblichen "Lyriker" wie Baker. Der überfällige Re-Release auf drei CDs erhielt dagegen sanfte Namen voller Nacht und Sternenglanz, und die Wahrheit liegt wieder einmal in der Mitte. Chet Baker anno 65 war ein durch Erfahrungen gereifter, äußerlich jung gebliebener 35-Jähriger, der nach fünf Jahren Abwesenheit ein massives, exakt geplantes Comeback ansteuerte. 16 der 32 Titel der Sessions stammen denn auch von Richard Carpenter, dem Produzenten und Baker-Manager, weitere 7 von Tadd Dameron: kein Allerwelts-Date also, sondern exquisites, handverlesenes Repertoire. Nicht genug der Überraschungen: Bakers Band besteht aus George Coleman, dem intelligent-kraftvollen Miles-Tenoristen, und einem schwarzen No-Nonsense-Rhythmustrio mit Kirk Lightsey, Herman Wright und Roy Brooks. Die Musik geht also zur Sache, Hardbop war angesagt, und Baker selbst setzt den verblüffendsten Akzent: Er spielt ausschließlich Flügelhorn. Das ist nicht der sanfte, kühle Baker der Mulligan-Zeit, nicht der fragile, sparsame Baker der späten Jahre, sondern ein Musiker voller Virtuosität und Melodik, Energie und Eleganz. Noch heute: sensationell gut.

Kenny Barron / Mino Cinelu
Swamp Sally (Verve)

Diese Aufnahmen, so tönt die Plattenfirma, werden Kenny Barrons Image für alle Zeiten verändern. Und sie könnte recht haben mit ihrer Prognose. Der Vorzeige-Pianist, der längst bewiesen hat, daß er jeder herkömmlichen Aufgabe gewachsen ist, sucht offenbar nach neuen Herausforderungen: Im Duo mit dem brasilianischen Perkussionisten und Gitarristen Mino Cinelu entstand eine multi-instrumentale, multi-kulturelle, multi-stilistische Improvisationsmusik. Darin steckt Swing und Funk und Blues, Louisiana und Brasilien reichen sich die kreolische Hand, Banjo trifft auf Synthesizer, und vorhersagbar ist gar nichts. Unbekümmert um Schubladen, wird hier spontan und mit Spaß dies und jenes probiert. Manches bleibt da bloße Geste, aber in der Geste steckt schon das Ganze: kein ausgereiftes Konzept, sondern - im bestmöglichen Sinn - ein lebendiges, unerhörtes Experiment.

Seamus Blake
siehe: Jim Snidero

Hamiet Bluiett Sextet
Young Warrior, Old Warrior (Mapleshade)

Eine Hymne auf Hamiet Bluiett, den alten Krieger an der baritonalen Brumm-Axt! Wer sonst trifft mit dem großen, schweren Horn so genau in die motorischen Untiefen unseres Seelenlebens? Wer sonst spielt die Blues-Licks so pampig, die Baß-Riffs so fett? Und wer außer ihm rotzt so schmutzig los, wenn's drauf ankommt? Ob mit dem World Saxophone Quartet, bei Lester Bowie oder in welcher Fake-Band auch immer: Auf Hamiet Bluiett war stets Verlaß. Er kann, was er kann, und etwas anderes - die feinere Jazz-Art etwa - sollte man gar nicht erst von ihm erwarten. Vergebliche Liebesmüh', ihm ein hochkarätiges Rhythmustrio beizugesellen (Larry Willis, Keter Betts, Jimmy Cobb) oder einen Saxophonisten, der auch Bebop spielen kann (Mark Shim). Hamiet Bluiett macht weiterhin nur das eine: "Feed the People" - so nannte er's mal.

Anthony Braxton
Creative Orchestra (Köln) 1978
Charlie Parker Project 1993 (beide: Hat Art)
Knitting Factory (Piano/Quartet) 1994, Vol.1 (Leo Records)
+
Anthony Braxton-Mario Pavone Quintet
Seven Standards 1995 (Knitting Factory Works)

Tonträger von Anthony Braxton waren noch nie Mangelware. Doch neuerdings scheint das Enfant terrible der Jazz-Avantgarde zu den Branchenführern John Zorn und David Murray aufschließen zu wollen, was den CD-Output betrifft. Zunächst hat Braxtons Schweizer Hausmarke tief ins WDR-Archiv gegriffen und zwei beachtliche Doppel-CDs hervorgeholt. Wer die 1976er Studioaufnahmen des Creative Orchestra schon immer für Braxtons künstlerischen Gipfelpunkt hielt, darf sich jetzt bestätigt fühlen: Im Live-Mitschnitt von 1978 wird die wild-konstruktive Genialität dieser Musik noch lebendiger. Fünfzehn Jahre später, beim Parker-Projekt, hielt sich Braxton als Arrangeur dagegen spartanisch zurück. Anders als Heiner Stadler, der einst den Bebop kompositorisch ins Freie geleitete, überläßt Braxton diesen Weg seinen eigenwilligen Improvisatoren wie Paul Smoker und Misha Mengelberg, die - gegen den Bebop-Konservatismus der Mainstream-Fraktion - Bird als Revolutionär in Erinnerung rufen. Immerhin könnte das Parker-Studium den Saxophonisten Braxton ein wenig frustriert haben, denn auf den beiden neuesten Produktionen ist er nur noch als Pianist zu hören. Die Saxophonistenrolle übernahm 1994 Marty Ehrlich, der die Melodien von Tristano, Brubeck und Monk bezaubernd interpretiert, 1995 Thomas Chapin, der, wenn er Bebop spielt, erstaunlich an Dolphy erinnert (besonders auf der Flöte). Braxton am Piano klingt dagegen wie eine Mischung aus Cecil Taylor und Thelonious Monk, was den Mainstream-Anschein dieser beiden Produktionen wieder sehr ins Wanken bringt (und eine todsichere Rhythmusgruppe verlangt). Ob sein Klavierspiel nur ein kurzer Flirt ist oder mit höheren Ambitionen verbunden, verrät uns Braxton nicht.

Bob Brookmeyer New Quartet
Paris Suite (Challenge)

Sonore Stimme, sanfter Ventilton, kühle Arrangements. Gentleman Brookmeyer ist sich treu geblieben. Noch immer verdient er - wie in den alten Tagen des Westcoast Jazz - mit dem Setzen intelligenter Klänge und schlanker Farben sein Brot. Seltener geworden ist der Solist und sein seltenes Horn, die zuglose Posaune. Ein Staunen wäre da fällig: Welch geballte Portion vorbildlicher Jazz-Phrasierung! Jeder Ton sitzt, swingt und spricht zu dir. Nie wird nach Überrumpelungseffekten gesucht, nie nach billigen Sensationen. Alles ist schlichter, handfester Zauber. So viel Magie der Meister hat, so viel Geschmack besitzen die Lehrlinge an Piano, Baß, Drums - vielleicht ein wenig zu viel Geschmack der europäischen Art. Eine apartere Instrumentierung hätte da gut getan, aber die Zeiten des Westcoast Jazz sind wohl doch vorbei.

Bobby Broom
No Hype Blues (Criss Cross)

Gitarristen, das weiß jeder, gibt es wie Sandkörner am Meer. Originelle Gitarristen dagegen gehören am Strand schon eher zu den seltenen Muscheln. Gitarristen schließlich, die die Tradition von Charlie Christian, Wes Montgomery oder Grant Green rein und lebendig halten, sind heute so rar wie weiße Wale. Ein solches Unikum ist Bobby Broom, der nun nach vielen Jahren wieder an die Oberfläche schwimmt. Einst streifte er mit Sonny Rollins und Miles Davis durch die Meere, dann tauchte er in kommerzielle Bereiche ab, aber nun ist er wieder da: mit dem salzigen Groove eines Kenny Burrell und frühen George Benson. Noch eine Entdeckung: Pianist Ron Perillo. Auch der könnte eines Tages als Riese durch den Jazz paddeln.

Ray Brown Trio
Some Of My Best Friends Are... The Sax Players (Telarc)

Das Konzept ist simpel, aber der Spaß für den Saxophon-Freak groß. Begleitet vom unfehlbaren Trio Benny Green/Ray Brown/Gregory Hutchinson, laden sechs Top-Saxer zum Vergleich von Phrasierung und Tongebung ein - darunter die Star-Tenöre Joe Lovano, Joshua Redman, Stanley Turrentine, Ralph Moore. Als Hörer fühlt man sich wie in einen angenehm klimatisierten Edel-Klub versetzt, natürlich mit Rauchverbot, Longdrink, viel Chrom und schwarzlackiertem Holz, und stündlich kommt einer und kassiert die Music Charge. An der Hochglanz-Bar dieses sterilen Etablissements wurde wohl auch die Idee geboren, die Saxophonisten im Studio über ihre frühen Einflüsse zu befragen. Das geht dann nach dem eingeübten Muster: "Hi, Ray... I feel fine... It is good to be here with you... Well, my early influences... Oh, that would be a great idea...!" Und dann einigt man sich überraschenderweise auf ein Stück aus jenen frühen Tagen. Glückliches Amerika!

Dave Brubeck
Young Lions & Old Tigers (Telarc)

Wer andere beglückt, wird reich. Nach diesem Motto handelte Dave Brubeck anläßlich seines 75. Geburtstags und beschenkte seinerseits seine jungen und älteren Gratulanten, schrieb ihnen mit nimmermüder Komponistenfeder Stücke auf den Leib und das Horn. Ausgangspunkt der Widmungsmelodien war meist der Name des Gastes: Bei "Michael Brecker" assoziierte Meister Brubeck einen Walzer, "Christian McBride" klang ihm nach Blues, aus "Joe Lovano" wurde ein Tango. Nicht immer klingt die Vorgabe so einleuchtend wie bei dem kleinen Kanon für Gerry Mulligan, doch die Ergebnisse bestätigen Brubecks Instinkt: Es entstanden sehr intime, enthüllende Features, umrahmt vom universalen Flair des altersweisen Pianisten. Das Konzept mag nicht besonders hip sein, aber ein Hipster war Brubeck ja nie. Unsquare, ja, das schon.

C

Benny Carter
Songbook (MusicMasters)

Benny Carter, mittlerweile 89 Jahre jung, zählt mit Recht zu den Größten: als Instrumental-Stilist der Swing-Ära, als Big-Band-Arrangeuer, als Saxophon-Satz-Schöpfer. Daß er aber auch wunderbare Melodien schreibt und viele seiner bezaubernden Songs selbst textet, fand bisher weniger Beachtung. Die CD "Songbook" präsentiert 15 dieser Meisterwerke, manche 50 bis 60 Jahre alt, andere in Erstaufnahme, gesungen von einer Vokalisten-Elite um Dianne Reeves, Joe Williams, Jon Hendricks, Peggy Lee, Diana Krall, Shirley Horn und Ruth Brown. Ich mache es kurz: Diese CD enthält einige der besten Jazz-Vocals der letzten Jahre! Für die Begleitung sorgt übrigens ein bewußt traditionalistisches Quartett bzw. Quintett mit dem neo-konservativen Warren Vaché und einem noch immer bewundernswert unnachahmlichen Benny Carter. Im Booklet finden Interessierte die Lyrics aller Songs sowie Hinweise auf ihre Recording History.

James Carter
Conversin' With The Elders (Atlantic)
+
SaxEmble
SaxEmble (Qwest)

James Carter setzt sich auf alle Stühle. Wer außer ihm könnte gleichermaßen bei den Traditions-Bewahrern (z.B. Wynton Marsalis) wie bei den Kaputtspielern (z.B. Lester Bowie) Arbeit finden? Das heißt wohl: Carter beherrscht die ganze Trickkiste des Jazz und weiß zugleich, wie man sich darüber lustig macht. Seine neue CD ist leider wenig mehr als ein weiterer Beweis für diesen Spagatschritt: Die Gästeliste seines Quartetts reicht von Stammvätern wie Harry Edison und Buddy Tate bis hin zu den Anti-Traditionalisten Lester Bowie und Hamiet Bluiett. Zwischen Stücken von Bennie Moten und Anthony Braxton bleibt für Carters starke eigene Identität immer weniger Spielraum. Da möchte man beinahe "SaxEmble" vorziehen, das von Ornette-Schüler Frank Lowe gegründete Saxophon-Ensemble, in dem Carter die hervorstechende Feature-Stimme ist. Die Saxophonisten Michael Marcus und Cassius Richmond prägen als Arrangeure das Konzept, Drummerin Cindy Blackman treibt die zwei bis sechs Saxophone exzellent zum Ziel. Und wenn Carter in die Rolle von Albert Ayler oder Fathead Newman schlüpft, ohne sich darin zu verstecken, horcht man immer noch auf.

Thomas Chapin Trio plus Strings
Haywire (Knitting Factory)

Wenn Thomas Chapin Streicher einlädt, wird niemand Sinatra-Arrangements erwarten. Eher schon eine ironische Spitze gegen alles Operettenhafte wie hier in Enrico Ravas Stück "Diva", für das der Factory-Irrwisch sogar passenderweise ein "Mezzo-Sopran-Sax" ausgrub. Die drei Zusatz-Streicher unter der Leitung von Mark Feldman liefern nun wirklich keine Klangtapeten, sondern sind selbst Tapezierer: Gespenstermusik ist diesmal angesagt, ein Spiel mit dämonischen Abgründen, eine Geisterbahnfahrt mit Heiterkeitseffekt. Chapin, der freundliche Rumpelstilz, mag Herr sein über teuflische Saxophondonner und magische Flötentöne, aber die öberrumpelungskraft seiner Musik verdankt sich dann doch keinem Pakt mit der Hölle, sondern seiner eigenen listigen Intelligenz. Die Stücke fügen sich gerne suitenartig zusammen, aber jedes für sich genommen ist auch schon eine Suite. Denn das Sprunghafte und Unberechenbare gehört zu den ganz wenigen Konstanten in der Musik Thomas Chapins.

Anthony Coleman
siehe: New Klezmer Trio

D

Jeremy Davenport
Jeremy Davenport (Telarc)

Der frühe Chet Baker läßt grüßen. Little Jeremy spielt die Trompete so dezent, kühl und kalkuliert wie der Verewigte, und er singt mindestens so gut - mit jener sicheren, gleichmäßigen Intonation, wie sie singenden Trompetern eigen ist. Sieben der 12 Stücke hat er selbst geschrieben, harmonisch einfach, textlich bescheiden, aber doch eingedenk der Tradition des Great American Songbook: swingende, romantische Lieder von Liebe und Liebesschmerz. Ein bißchen soft, ein bißchen verrucht, ein bißchen unschuldig, ein bißchen berechnend: Achtung, Mädels, da kommt ein musikalischer Herzensbrecher!

Paco De Lucia/Al DiMeola/John McLaughlin
The Guitar Trio (Verve)

Mögen Sie Stierkampf? Hitze, Ausrufer, volle Ränge, lautes Geschrei, Gitarrenmusik, geschwenkte Hüte und wehende Tücher? Kennen Sie dieses Gefühl, wenn der Stier die Arena betritt und die Spannung umschlägt in eine unerklärliche, übersteigerte Erregung? Drei Kämpfer treten hervor, berühmte Namen, stolze Blicke, edle Gesten. Keiner steht dem anderen nach, jeder will glänzen vor den Augen der schönen Frauen im Publikum. Drehungen, Finten, Akrobatik mit Stil und Eleganz. Die Kämpfer steigern sich ins Heroische, die Arena beginnt zu toben, ein Schwindel berauscht die Masse, irrationale Begeisterung greift um sich. Allein: Der Stier hat wenig Freude daran, und am Ende ist er auf alle Fälle tot. Davon abgesehen war es eine gute Show mit großen, bewegenden Augenblicken.

Dave Douglas
Five (Soul Note)

DD, interessantester Trompeter dieser Tage, virtuoser Pendler zwischen Horace Silver und John Zorn, präsentiert sich mit seiner String Band - Violine, Cello, Baß und Schlagzeug. Nicht umsonst würde man diese Instrumentierung eher in der Salonmusik erwarten: Die Douglas Five spielen zeitgenössische, swingende Improvisationsmusik zwischen Monk, Cage und Tango. Kammermusikalisch Komponiertes trifft auf jazzige Riffs, brüchige Kantilenen kontrastieren mit jüdischem Melos. So ganz nebenbei verfolgt Douglas' Trompete auch noch Spuren im Bop-Gelände, die von Woody Shaw oder Blue Mitchell stammen. Ein Geniestreich.

Paquito D'Rivera
Portraits Of Cuba (Chesky)

Carlos Franzetti heißt der Mann, der die Kompositionen aus 100 Jahren kubanischer Musik arrangiert hat - für Paquito und eine 13köpfige Pseudo-Big-Band. Zuweilen erinnert das ambitiöse Werk an Gil Evans: Betont modernistisch setzt es auf Farbe und Struktur statt auf Satz und Rhythmus. Schwerer wiegt, daß die "Portraits" durch ihren verquast-klassischen Anspruch zu einer Art Unterhaltungskonzert für Solist und Orchester gerieten. Afro-kubanische Melancholie und Feierlichkeit schlagen da leicht um in schwülstige Angeberei und leere Großmanns-Gestik. Trotz des audiophilen Anspruchs der Chesky-Brüder und trotz Aufnahmeleiter Bob Katz überzeugt mich auch die klangliche Balance zwischen Solist und Ensemble nicht. Fort in den Konzertsaal damit!

Lajos Dudas
Encore (Rillophon)

Schon nach wenigen Tönen weiß man: Dieser Mann zählt zu den besten Jazz-Klarinettisten aller Zeiten. Dudas ist ein perfekter Techniker, ein Swinger, der den kühlen, schmalen Chalumeau-Ton pflegt, und zugleich ein mutiger Modernist, dessen zerklüftete Melodien Kompositionspreise gewannen. Auf seinem Konto stehen Platten von zeitloser Größe, Aufnahmen mit Attila Zoller, Toto Blanke, Tom van der Geld, Tommy Vig, Theo Jörgensmann. Anno '96 klingt Dudas reifer, zarter, delikater denn je. Man mag hier manches vermissen, den Willen zum großen Wurf, den aggressiven, experimentellen Biß. Schwerer wiegt, daß vieles überflüssig und seifig wirkt, was die Nebenleute beitragen. Ein Trend zum Easy Listening? Der wäre fatal angesichts dieser Begabung.

E

Marty Ehrlich's Dark Woods Ensemble
Just Before The Dawn (New World)

Marty Ehrlich stand noch nie in dem Ruf, ein Straight-ahead-Bebopper zu sein. Doch was der Multi-Instrumentalist nun mit seinem Dark Woods Ensemble anstellt, überschreitet vollends die Grenzen des Jazz in einem mehr als nur spielerischen und experimentellen Sinn. Die völlig umbesetzte und zum Quintett aufgestockte Formation, die in den USA auch in Kammermusik-Zyklen gebucht wird, bekennt sich mit Ernst zu ihrem märchenhaften Namen. Mit Klarinetten und Flöten, Cello, Waldhorn, Baß (meist con arco) sowie Handtrommeln wird jenes holzwarme, dunkelwaldige, geheimnisvolle und unerforschte Klangaroma gemischt, in dem Ehrlichs improvisierte Kammermusik mit jazzigem Biß und Ethno-Touch bestens gedeiht. Visionäre Farben, dramatische Abgründe und unangestrengte, fließende Bewegungen greifen wundersam ineinander, und wenn Sie hier eines gewiß nicht finden, dann ist es das straight-ahead gespielte Bebop-Solo. Weltmusik? Ja, aber nicht von dieser Welt.

Either/Orchestra
Across the Omniverse (Accurate)

Bei uns noch ein Geheimtip, rangiert das Either/Orchestra seit Jahren ganz oben in den amerikanischen Big-Band-Polls. Und dies, obwohl die 10- bis 11köpfige Formation keine großen Namen aufweisen kann und für eine Big Band eigentlich auch zu klein ist. Dafür reisen die Jungs aus der Bostoner Szene viel herum, gastieren vor allem an Universitäten, Akademien und Colleges und sind daher den amerikanischen Poll-Wählern bestens bekannt. Neben eigenen Stücken spielt das Ensemble Klassiker von Ellington, Bacharach oder Gigi Gryce, und diese Mischung aus Neu und Alt ist ihr eigentliches Erfolgsrezept: Das Either/Orchestra ist freakish genug für die Knitting Factory und traditionell genug für Sweet Basil, man verbindet grelles Experiment mit bewährter Big-Band-Technik, Spaß mit Können. Zum 10jährigen Bestehen präsentiert diese Doppel-CD 21 unveröffentlichte Tracks als Appetizer auf fünf vorausgegangene Produktionen.

Ellery Eskelin
siehe: Andy Laster

F

Erik Friedlander
Chimera
+
John Zorn's Cobra
Tokyo Operations '94 (beide: Avant)

Musik für Klarinetten und Streicher: Da fielen uns bis vor kurzem erst mal die Quintette von Weber und Brahms ein, an denen sich auch Benny Goodman versuchte. Doch allem Anschein nach hat der Jazz hier Nachholbedarf, ein neues Klangbild ist im Kommen, lebendig und warm wie das dunkle Holz dieser Instrumente. Bei Gerry Hemingway war das schon zu hören, in Marty Ehrlichs Dark Woods Ensemble, bei der Begegnung von Louis Sclavis' Klarinettentrio mit den Arcado-Streichern. Auch Cellist Erik Friedlander und seine drei Mitstreiter wollen es wissen: "Chimera" ist große, fesselnde Musik mit Swing und Anspruch. Weber und Brahms dürfen stolz sein. Ganz andere Klänge kommen aus Japan, der Teilzeit-Wahlheimat John Zorns und seiner liebsten Inspirationsquelle. Zorns berüchtigtes "game piece", mehr ein Regelwerk als eine Komposition, erklingt diesmal auf traditionellen japanischen Instrumenten, und eine moderne Rhythmusgruppe sorgt für Hardcore-Einsprengsel, Rock- und Jazz-Grooves. Wie die mehr als 100 früheren Realisationen von "Cobra" arbeiten auch diese sechs Versionen mit ihrem eigenen Material: musikalischen Versatzstückchen, schrillen Sounds, satirischen Rhythmen. Cobra, ein transkultureller Klassiker: Witziger und origineller konnte man das kaum beweisen.

Bill Frisell
siehe: Jim Hall

G

Giacomo Gates
siehe: Steven Kowalczyk

Stan Getz
Blue Skies (Concord)

Der Saxophonist mit dem Ton einer schläfrigen Hummel starb vor fünf Jahren, seine CD-Produktion ging jedoch munter weiter. Bemerkenswertes war dabei: "Spring Is Here" (der Nachtrag zu "The Dolphin"), Herb Ellis' Reissue "Nothing But The Blues" und vor allem die Aufnahmen des Quartetts mit Gary Burton, "Nobody Else But Me". Nun kommen auch noch unveröffentlichte Bänder von den "Pure Getz"-Aufnahmen zutage, genauer gesagt: von der Westküsten-Session im Januar 1982. Die stärkere Session war zwar die in New York (mit "Blood Count", "Tempus Fugit"), aber "Blue Skies" bietet beileibe keinen Studioabfall: Stan Getz summt und haucht sich in melancholischer Großlaune durch die Balladenbeete. Den einzigen Uptempo-Song lieferte Pianist Jim McNeely, auch er hier in bester Tagesform. Marc Johnsons "Antigny" dagegen beweist vor allem eins: Nicht jeder kann ein modales Stück so spannend gestalten wie John Coltrane. Stan Getz' Stärke waren die Changes, keine Frage.

Steve Grossman Trio
Bouncing with Mr. A.T. (Dreyfus)

Der käsige Teint des Ex-Junkies und das nach Schwärze sich verzehrende Spiel lassen an Art Peppers Schicksal denken. Tenorsaxophonist Steve Grossman blickt auf eine große Zukunft zurück: Sie begann in den Bands von Miles Davis und Elvin Jones und endete viel zu früh. Noch immer macht Grossman, nun in Europa zu Hause, gute Platten, die vom Ton und der Kraft der Großen inspiriert sind: a) Sonny Rollins, b) John Coltrane. Auch 1989, an einem Oktoberabend in Italien, waren Widmungen fällig, denn man spielte im klavierlosen Trio, der klassischen Herausforderung der großen Tenoristen, und am Drumset saß der große Art Taylor, der sie alle begleitet hat: Rollins, Trane, Miles. Huldigungen also an Rollins und Jimmy Heath, zwei Widmungsstücke für Coltrane, eine Stunde Ahnenbeschwörung live. Eine moderne Art von Voodoo-Kult aus dem Louisiana Jazz Club, Genua.

H

Jim Hall
Dialogues (Telarc)
+
Bill Frisell/Kermit Driscoll/Joey Baron
Live (Gramavision)

Telarc hat die Talkshow als CD-Konzept entdeckt. Nach dem Motto "Ich lade mir gern Gäste ein" plauderte Ray Brown musikalisch mit seinen Lieblingspianisten und Dave Brubeck mit seinen Gratulanten. Nun hat auch Jim Hall, Gitarrist mit großer Vergangenheit, seine Einladung gemacht, und die Gästeliste könnte kaum überraschender ausfallen. Statt mit den Gefährten von früher geht der 65jährige nämlich mit fünf Helden von heute für je zwei Stücke ins Studio: mit Bill Frisell, Mike Stern, Joe Lovano, Tom Harrell und - am Akkordeon - Gil Goldstein. Herausgekommen ist die erfrischendste, farbigste, vitalste Platte Jim Halls seit langer, langer Zeit. Besonders erhellend fiel der Soundtalk mit Bill Frisell aus: Da treffen sich - über die Generationen und Stile hinweg - zwei stille Einzelgänger und zwingen dich, die wilde Verwegenheit in ihrer scheinbaren Sanftheit zu hören. Wer da auf den Geschmack kommt, sollte auch Frisells Live-Trio von 1991 nicht verpassen: Unberechenbar hangelt sich der Meister der Schwebtöne von Lyrik zu Noise, von Romantik zu grellem Witz, und Einsprengsel aus der Hardrock- und Bluegrass-Kiste sind ebenfalls dabei. Dazu ein inspirierter Joey Baron: Da fällt es schwer, dem Melting Pot namens Naked City nicht nachzutrauern.

Tom Harrell
Labyrinth (RCA)

"Labyrinth" mag ein treffender CD-Titel für einen Musiker sein, dessen Krankheit mit Medikamenten gedämpft werden muß, damit er sich aufs Spielen konzentrieren kann. Hört man die CD, ist von diesem Handicap nichts mehr zu spüren: Harrell bläst eine der raffiniertesten Mainstream-Trompeten weit und breit. Dennoch: Diese Mischung aus Mainstream und Raffinesse kann einen auch ziemlich kalt lassen, denn die Musik ist nicht richtig straight und nicht richtig originell, sie reißt nicht richtig mit, fordert aber auch nicht richtig den Intellekt. Einwände hätte ich außerdem gegen den Sound und gegen die Wahl des Drummers... Genug gemäkelt! Die besten Momente - und die heben die CD aus der Neuheiten-Flut heraus - liefern Harrells Arrangements für größere Besetzung, und die hört man sich gern auch zweimal an.

Barry Harris
Live at DUG
+
Junior Mance
At Town Hall Vol. II (beide: enja HW)
+
Ahmad Jamal
Big Byrd (The Essence Part 2) (Birdology)
+
Oscar Peterson
Meets Roy Hargrove and Ralph Moore (Telarc)

Da lacht das nostalgische Piano-Herz im Leibe: Vier reife Giants der Jahrgänge 1925 bis 1930 geben quicklebendige Kostproben ihrer edlen Kunst. Einer der besten Monk- und Bud-Powell-Interpreten, Barry Harris, liefert eine Art strenger Übung in purer Bebop-Disziplin ohne Gimmicks, Flausen und Leerlauf. Auf den Moment konzentriert und allen Witz in Musik übersetzend, bot Harris seinem japanischen Klub-Publikum eine Sternstunde musikalischer Zen-Meditation. Darauf stehen nicht nur Japaner. Wesentlich relaxter geht es bei Junior Mance zu, der einst unter Gene Ammons und Cannonball Adderley bekannt wurde. Soul-Groove hat Mance noch immer: Weiträumig und souverän, im delikaten Wechsel zwischen Erdig-Bewährtem und gelöster Spontaneität, spielt er sich durch fünf Stücke zwischen 10 und 15 Minuten Länge. Saxer Houston Person ergänzt dazu eine kräftige Portion Wailin' & Burnin'. Noch immer auf dem schmalen Grat zwischen Genie und Masche wandelt der einst von Miles bewunderte Ahmad Jamal. In der Laborküche moderner Studios suchte er diesmal nach zeitgenössischen Gesten zwischen lauten Drum-Breaks, Latin-Rhythmen und beflissener Modernität. Das Titelstück "Big Byrd" (mit Donald Byrd und stetem Hi-Hat-Beat) klingt wie eine Hommage an "Bitches Brew", ein später Dank an Miles. Mit neuen Herausforderungen hat auch Oscar Peterson zu tun, seitdem er sich weitgehend auf die rechte Hand verlassen muß. Den zeitlos-gepflegten Bop-Swing-Session-Stil der Norman-Granz-Schule spielt er trotzdem noch, und Hargrove und Moore können das ebenso geschmackssicher wie einst Jon Faddis und Zoot Sims. Was Petersons Spiel an Dichte verloren hat, kommt übrigens seiner Komponisten-Tätigkeit zugute: Die CD bietet 7 hörenswerte Peterson-Themen alter Schule.

J

Ahmad Jamal
siehe: Barry Harris

K

Guy Klucevsek
Stolen Memories (Tzadik)

Man sieht es förmlich vor sich. Eine Polka-Punk-Band spielt sich durch die Straßen der Lower East Side: Klucevsek, der Akkordeon-Spieler mit der hohen Stirn, umtanzt von seinem Bantam-Orchester (Geige, Cello, Baß). "Urban Rite" - zerrissene, komplexe Avantgarde-Rhythmen. "Stolen Memories" - afrikanische Melodik, beinahe zum Tango verfremdet. Zusammen sind das aber nur achteinhalb Minuten, da ist man erst zwei Blöcke weit gekommen. Es gibt dann noch einen kleinen Donut-Song und eine längere, improvisierte Nummer, mehr zum Ausruhen. Der Rest ist Zweitverwertung: eine Handvoll Stückchen, die eine Tanztruppe in Auftrag gab. Plötzlich ist die CD vorbei, und die imaginäre Band hat noch nicht mal die Orchard Street erreicht. Schade: ein bißchen wenig Musik fürs Geld, und schuld daran ist nicht nur die satte LP-Länge von 42 Minuten.

Steven Kowalczyk
Moods And Grooves" (Atlantic)
+
Giacomo Gates
Blue Skies (dmp)

Er ist der ewige Traum der Jazz-Produzenten: der Sänger, der den Sprung vom Jazzkult zum Starruhm schaffen kann, Beispiel: Sinatra. Produzent Ahmet Ertegun glaubt sich am Ziel seiner Träume: Die Wirklichkeit heißt Steven Kowalczyk, sieht aus wie John Cassavetes selig und klingt wie eine Mischung aus Georgie Fame und Barry Manilow. Der Junge singt nicht nur, er schreibt Songs (schwache Melodien mit lausigen Lyrics) und arrangiert sie jazzig. Manchmal erreicht seine Stimme die Coolness des jungen Chet Baker, fast immer wenigstens die Ausstrahlung eines Vince Jones. Fehlt nur noch jemand, der ihm gutes Material liefert. Giacomo Gates geht da auf Nummer sicher und bedient sich gleich bei Ellington, Miles, Monk und Parker. Gates ist nicht der Typ des jungen Herzensbrechers, sondern ein rauher, knurriger Vocalizer, der das Leben schon kennengelernt hat - in der Wildnis Alaskas. Er singt mit einem Bariton, der stark an Med Flory erinnert, bevorzugt Lyrics von Eddie Jefferson und Jon Hendricks und beweist an Monks "Five Spot Blues" auch eigenes lyrisches Geschick. Doch zum Star taugt der sympathische Alaska-Bär kaum, das wird auch Produzentin Helen Keane ahnen. Nicht umsonst gab sie einst auch dem Pianisten Bill Evans den Vorzug vor dem Sänger Mark Murphy.

Diana Krall
All For You (GRP)

Als ich zum ersten Mal das Konterfei der jungen Dame aus Kanada sah, dachte ich nur: O je, jetzt wollen schon die kleinen Mädchen Jazz singen! Leider behielt ich das nicht für mich und hatte mich prompt als Macho geoutet. Wie konnte ich denn ahnen, daß dieses Blondchen so eine Stimme hat, rauchig, schwarz, verrucht: Ein amerikanischer Kritiker beschrieb ihr Timbre als wilden Honig mit einem Schuß Scotch. Und dazu noch ihr höchst originelles Klavierspiel, sperrig und nostalgisch zugleich, Jimmie Rowles läßt grüßen. Nun kommt Diana Kralls dritte CD, eine Hommage an den großen Nat King Cole und sein Trio, und als ich davon zum ersten Mal las, dachte ich nur: O je, schon wieder so ein erinnerungsseliger Tribut! Nochmals: Denkste. Nichts könnte sich besser und aktueller in Dianas Stil fügen als Nats schlagzeugloser Trio-Sound. Play me Old King Cole... Vorsicht: Der Scotch im wilden Honig ist merklich nachgereift. Man spürt ihn noch lang hinterher.

L

Oliver Lake Quintet
Dedicated To Dolphy
+
Muhal Richard Abrams
Think All, Focus One (beide: Black Saint)

Oliver Lake würdigt (nicht zum ersten Mal) den unerreichten, letztlich unverstandenen Heroen der schwarzen Avantgarde, Eric Dolphy. Ganz nahe wagen sich die Arrangements ans Vorbild heran, auch wenn Lake - wie so viele vor ihm - vor dem Original-Tempo von "Miss Ann" kapituliert. Etwas von der Sperrigkeit, Wildheit, Bissigkeit der 60er Jahre fängt er wohl ein, doch dem künstlerischen und energetischen Level Dolphys kommt er als Solist nie auch nur nahe. Da wäre mehr (eigenständige) Würdigung und weniger (schwaches) Plagiat besser gewesen. Glanzleistung des Produzenten: Er zierte das Cover dieses Tributs eines Altsaxophonisten an einen Altsaxophonisten mit einem Tenorsaxophon. Daß das Projekt "Schwarze Avantgarde" noch längst nicht abgeschlossen ist, behauptet einmal mehr Muhal Richard Abrams. Seine orchestralen Bemühungen hat er inzwischen aufs Septett reduziert - eine Mischung aus schwarzem Beat und innovativen Struktur-Schichtungen: Hier liegen auch Henry Threadgills Wurzeln. Im letzten Stück treibt Abrams die Reduktion noch weiter und fokussiert das Kollektiv der Stimmen auf ein einziges Instrument: den Synthesizer. Nicht lästern, erst anhören!

Andy Laster's Hydra
Polyogue
+
Patrick Zimmerli Ensemble
Explosion
+
Ellery Eskelin
Jazz Trash (alle: Songlines)

Das kanadische Label "Songlines" belebt jene Kicks wieder, die uns vor zehn Jahren Firmen wie JMT und Sound Aspects lieferten. Erinnern Sie sich noch an das Herb Robertson Quintet mit Tim Berne? An die damaligen Aufnahmen von Bobby Previte, Gerry Hemingway, Michele Rosewoman, Joint Venture? An die - noch rein akustischen - Anfänge von Steve Coleman, Greg Osby, Gary Thomas? Ah, ich sehe schon den nostalgischen Glanz in Ihren Augen. Sie dürfen sich freuen: Dieser unterkühlt freie Umgang mit der Jazz-Tradition klingt wieder genauso spannend wie damals, weil er inzwischen viel seltener geworden ist. Altsaxophonist Andy Laster, ein Veteran jener Jahre, spielt noch immer diese tragischen, großintervalligen Jazz-Themen, und auch seinen Haupt-Partner Herb Robertson hat der 'Spirit of 85' nicht verlassen. Eine relativ neue Stimme ist Tenorsaxophonist Pat Zimmerli, der den 'steady beat' scheut wie die Hölle. Davon mal abgesehen, hat sein Quartett (mit Perkussion statt Drumset) etwas vom Third-Stream-Charme des experimentellen Cool Jazz von 1950. Noch interessanter klingt das Trio von Ellery Eskelin mit der Akkordeonistin Andrea Parkins und Ausnahme-Drummer Jim Black: originelles Klangkonzept, facettenreiche Formgebung, umwerfender Tenorsound. öberhaupt: Für Saxophon-Freaks sind alle drei CDs ein Fest.

Noch mehr Rezensionen:

Hörhilfen (2007)

Album der Woche (2008)

M

Kevin Mahogany
Kevin Mahogany (Warner)

Für den Mann mit der vielseitigen Baritonstimme wurde wahr, wovon viele Jazzmusiker träumen: ein Vertrag bei einem Branchen-Riesen, verbunden mit gigantischen Vorschüssen, weltweiter Exposition, Major-Promotion. Dafür läßt man sich auch gerne nochmals neu definieren: Mahoganys 4. CD trägt schlicht seinen Namen, als zählte das Frühere nicht. Und tatsächlich steht erstmals die gut verkäufliche Soul-Stimme Mahoganys im Mittelpunkt und nicht etwa sein schon bewiesenes Jazz-Talent. Fazit: Mit so viel Seele in der Kehle verkraftet einer auch sterile Arrangements und Kirk Whalums Muzak-Sax. Zur Belohnung für seine Balladen-Disziplin genehmigte man Mahogany dann doch ein paar Scat-Einlagen, eine seltene Eddie-Jefferson-Nummer und sogar ein eigenes Original. Kein Grund, sich zu schämen.

Junior Mance
siehe: Barry Harris

Joe Maneri Quartet
Dahabenzapple (Hat Art)

Vom Geheimtip zum Medien-Liebling: In seinem 70. Lebensjahr tummelt sich Joe Maneri gleich auf mehreren Labels und in zahlreichen Feuilletons. "Ich will keine Töne, ich will sie daneben", so lautet das meistzitierte Credo des Mikroton-Saxophonisten. Die Umsetzung gelingt ihm, fraglich bleibt ihr Sinn. Auch die eloquenten, dreisprachigen Liner Notes, die Dutzende von Künstlern und Denkern zwischen Sokrates und Schönberg bemühen, verraten uns nicht, wohin diese "unscharfe" Musik eigentlich zielt - außer eben haarscharf vorbei. Daneben-Gezappel im leeren Raum, akademisches Experiment, meinetwegen - nur keine Jazz-Platte. Für Gegendarstellungen sind die Feuilletons zuständig.

Branford Marsalis Trio
The Dark Keys (Columbia)

Buckshot LeFonque und Fernsehshows sind nicht das Höchste im Leben, sagt sich Branford Marsalis und wählt die klassische Schikane: Saxophon, Baß, Drums, sonst nichts. Einer der besten zeitgenössischen Tenoristen bleibt also dem akustischen Jazz erhalten. Auch einer der ehrlichsten: Branford Marsalis blendet nicht mit Akrobatenstückchen (sorry, James), kalkuliert nicht mit inszenierter Dynamik (sorry, Josh). Er verschleiert nichts, er legt sein Können bloß: Diese Musik ist spartanisch, herb, spontan, technikbesessen, fast abweisend und so stur wie ein einstündiges Warming-Up. Auch die Gastbläser Joe Lovano und Kenny Garrett fügen sich in diese fast existentialistische Strenge, die auch aus Cover und Titel der CD spricht. Mag sein, daß die Stimmung im Studio etwas düster war: Die Liner Notes enthalten Widmungen an Wayne Shorter und seine Frau Ana Maria, die beim Flugzeugabsturz vor Long Island ums Leben kam.

The Jimmy McGriff & Hank Crawford Quartet
Blues Groove (Telarc)

Der Titel ist Programm, und kaum jemand wäre besser geeignet, den Blues grooven zu lassen, als diese beiden. Jimmy McGriff, Jimmy-Smith-Schüler der ersten Stunde und Klub-Orgler mit kommerziellem Talent, und Hank Crawford, der Alt-Shouter am Altsax, ein Seelenverwandter von Louis Jordan, Cannonball Adderley und Maceo Parker, legen bereits ihr fünftes gemeinsames Album vor, und der Hammond-Groove mit Sax-Cry läuft nach wie vor wie geschmiert. Die Stücke - aus der einschlägigen Soulfunk-Küche McGriffs, seiner Hammond-Kollegen McDuff und Smith, eines Zawinul und Les McCann - lassen Raum für alle Varianten und Klischees erdigen Musizierens, ob Basie oder churchy. Nur leider spielt McGriff statt der guten, alten B-3 die aktuelle XB-3 und schreckt vor ihren synthetischen Tricks nicht zurück. Konservative Hammond-Freunde wenden sich da mit Grausen.

Mulgrew Miller
Getting To Know You (RCA Novus)

Kein anderer aktueller Pianist unter 40 Jahren hat mit so vielen Vertretern der echten Schule gespielt - mit Blakey und Golson, Hutcherson und Hubbard, mit Joe Henderson und Donald Byrd und Woody Shaw und Betty Carter... Als Bandleader jedoch ringt Miller noch immer ums eigene Profil, gefangen in seiner Vielseitigkeit und grenzenlosen Technik. Auch die neue CD erinnert zunächst wieder an McCoy Tyner: Das überladene Brodeln, die hymnische Energie, das modale Parlando und die hektische Latin-Hitze erlauben der Musik kaum ein straightes Vorwärts oder relaxtes Laidback. Daß er widerstandslos im swingenden Mainstream mitschwämme, ist Mulgrew Miller wahrlich nicht vorzuwerfen. Aber die überzeugende Demonstration einer eigenständigen künstlerischen Persönlichkeit steht weiterhin aus.

James Moody
Young At Heart (Warner Bros.)

Endlich legt James Moody sein Frank-Sinatra-Album vor! Dringender erwartet wird derzeit nur Roy Hargroves Hommage an Doris Day, John Scofields Gospel-CD oder Joshua Redmans Beatles-Tribut. Aber im Ernst: Diese Veröffentlichung hat wahrlich einiges an Merkwürdigkeiten zu bieten. Da ist ein Gil Goldstein, der in den Fußstapfen von Nelson Riddle und Billy May Arrangements voll abgründiger Genialität und tiefgründigen Kitschs liefert. Dann gibt es einen 71jährigen Bop-Tenor-Veteranen, der sich in der Eröffnungsnummer als Sänger versucht und hin und wieder auch auf Sopran und Flöte ausweicht. Außerdem kommt noch ein Bill Cosby daher und empfiehlt diese CD als ideales Geschenk. Fragt sich nur: wem schenken? Denn zwischendurch, wenn Hollywood mal schweigt, ist "Young At Heart" eine richtig gute Jazzplatte.

Frank Morgan
Love, Lost & Found (Telarc)

"Gus, ya gotta learn to say 'I love you' in 32 bars", heißt es in der Verfilmung des Lebens von Gus Kahn. "Love, Lost & Found": Das ist präzise das Thema der elf Balladen-Interpretationen auf dieser CD, darunter Songs von Arlen, Carmichael, Kern, Cole Porter, voll radiotauglich (in den USA) und Inbegriff des ewig-schwammig Schönen in der Kunst (in den USA). Altsaxophonist Frank Morgan, der nach gewissenhaften Rehearsals in San Quentin vor zehn Jahren wieder auf die Jazz-Szene stolperte, spielt noch immer mit diesem Charlie-Parker-Ton der fünfziger Jahre, hart, aber mit Raum dahinter - ähnlich einem großen Grizzly in einer noch größeren Höhle. Das Ganze ist ein bißchen unheimlich: ein Frühgealterter mit dem Stil eines Junggestorbenen, authentische Parker-Phrasen im digitalen 20-Bit-Sound, eine Mumie des Bebop, luxuriös verpackt in der abgeklärten Routine eines Cedar Walton, Ray Brown und Billy Higgins. Oder kommt die Gänsehaut am Ende doch von der ewigen Schönheit der Musik und den tiefen Gefühlen der Love Ballad?

Munich Saxophone Family
siehe: Rova

David Murray Quintet
With Ray Anderson & Anthony Davis (DIW)

In den Plattenläden beansprucht David Murray inzwischen fast soviel Platz wie Duke Ellington. Kein Wunder, daß Produktionsbüros, Preßwerke und Vertriebe die steigende Murray-Flut kaum mehr bewältigen und es zu erheblichen Verzögerungen zwischen Aufnahme und Veröffentlichung kommt. Diese Scheibe zum Beispiel hat zweieinhalb Jahre auf ihr Erscheinen gewartet, aber zum Glück zeigt sie keine Spuren von Resignation. Das allerdings ist vor allem das Verdienst von Murrays Mitspielern, die frische Laune und sprühende Ideen ins alte Gebälk blasen. Anderson - ähnlich wie Murray - hat aus einem Repertoire individueller Tricks und Spleens im Lauf der Jahre seinen ganz verqueren eigenen Stil gebastelt. Davis, um den es leider stiller wurde, läßt als Impressionist des Avantgarde-Pianos noch immer aufhorchen. Mit originellen eigenen Kompositionen bewaffnet, stürmten die beiden Murrays Domäne, als gälte es Karneval zu feiern. Und der Hausherr ist offenbar kein Spielverderber.

N

New Klezmer Trio
Melt Zonk Rewire
+
Anthony Coleman Trio
Sephardic Tinge (beide: Tzadik)

Wenn John Zorns "Masada" einen Inspirator hatte, so war es Ben Goldbergs "New Klezmer Trio". Dieses nämlich machte schon 1990 vor, was radikale jüdische Kultur sein kann, und stellte die "fröhliche Ghettomusik" der Klezmorim auf den Kopf: "Masks and Faces" hieß die Debüt-CD. Auf Produktionen unter eigenem Namen verfuhr Ausnahme-Klarinettist Goldberg ähnlich auch mit dem Bebop, grub ihn um, zerlegte ihn säuberlich und konstruierte ihn neu. Nun endlich gibt es wieder einen Hafen für sein Trio, Zorns exklusives neues Label, das sich ganz der jüdischen Radikalmusik widmet. Auch Anthony Colemans Werk sucht Originalität: Seine Suche nach den spanisch-jüdischen Wurzeln in Salsa und Jazz läßt uns die Musikgeschichte neu überdenken. Diese Klaviertrio-Versionen sind melancholisch, entspannt, ironisch, ein Wurf mit Understatement. Vom unbedingten Ausdruckswillen des "New Klezmer Trios" sind sie freilich so weit entfernt wie die Lower East Side vom Berg Sinai.

O

Organ Jazztrio & Martin Weiss
Hommage (Edition Collage)

Die "Hommage" gilt Django Reinhardt, und der Drahtzieher ist natürlich ein Gitarrist: Jörg Seidel, Sideman im Trio des Hammond-Organisten Matthias Bätzel. Die Zeitlosigkeit Djangos zu entdecken, das war die Absicht: Sieben (zum Teil selten gehörte) Stücke des legendären Gypsy-Gitarreros kommen modernistisch bis funky daher, teils im authentischen Souljazz-Sound der Fifties. Für eine Restspur von Zigeunerswing sorgt Gastgeiger Martin Weiss - ganz in Stéphane Grappellis Manier. Solche Stilmischungen funktionieren selten, oder hätten Sie schon mal von "Cool Salsa" und "Electric Dixie" gehört? Diesmal jedoch ging die Paarung auf: Hammond-Groove und Zigeunerjazz bescheren uns hier nicht nur originelle Reibungen, sondern eine unbeschwerte Happy Hour. Verwirrend nur, daß das einzige etwas mißglückte Violinsolo ausgerechnet an den Anfang gesetzt wurde.

P

Oscar Peterson
siehe: Barry Harris

Pili Pili
Dance Jazz Live 1995 (Jaro)

Vergeßt Beethoven und Charlie Parker! Boxkämpfe sind wieder angesagt, der Rausch des Blutes wogt durch Europas Hallen, und in der Hotellounge trommelt Afrika. File under "Worldmusic"! Sogar die TV-Shows haben die Ethno-Welle entdeckt, weil: Das ist ja so schön bunt! Wie hieß es einmal: Hilflos negert der Unoriginelle. Also: Vergeßt die Kunst! Aber hört diese Begeisterung! Daraus spricht Wahrheit! Denn wo die Massen toben und die Masken tanzen, herrscht entweder Krieg, Karneval oder Pili Pili. Wie heißt es: Schamlos jaspert der Unneger.

Florian Poser - Klaus Ignatzek Duo
Reunion
+
Volker Schlott Quartett
Why Not (beide: Acoustic Music)

Das Vibraphon ist ein gefährdetes Instrument. Bei der Grundausrüstung des Mainstream-Jazz wurde es vergessen, und eine Renaissance - wie die der Hammond-Orgel - steht aus. Asyl gefunden hat es nur im kammermusiknahen Virtuosen-Jazz - dank Milt Jackson (beim MJQ) und Gary Burton (im Duo-Verband mit Chick Corea). Wie Spendel/Schlüter folgten auch Ignatzek/Poser in den 80ern dem Corea/Burton-Vorbild, und heute stehen sie ziemlich einsam da: das beste Piano/Vibes-Duo auf der Szene, technisch erstklassig, musikalisch spannend, eher Allegro als Blues. Mit solchen Delikatessen kann das Volker Schlott Quartett nicht aufwarten. Das CD-Cover gibt den Speiseplan schon vor, eine Melange aus Fast Food und Abzock-Bar: gehacktes Sax im Plastikbrötchen neben fusligem Jazzcocktail und verwässertem Südafrika-Verschnitt. Das liegt verdammt nahe an den kunstgewerblichen Kommerzversuchen, wie sie in den Achtzigern durch die östlichen Bruderländer plätscherten. Amiga, Poljazz und Hungaroton lassen grüßen.

R

Reedstorm Saxophone Quartet
siehe: Rova

Dianne Reeves
The Grand Encounter (Blue Note)

Die großen Sängerinnen sind tot - Sarah, Carmen, Ella. Doch neben dem leeren Königinnen-Thron wartet schon Dianne Reeves. Ihr Timbre, ihre Phrasierung erinnern noch oft an Sassy Sarah, aber viele ihrer Flektionen kommen aus dem Soul und schwarzen Pop einer jüngeren Generation. Vielleicht gerade deshalb geht Dianne Reeves hier auf Tuchfühlung zum ganz echten Jazz, und jedes Stück auf der CD ist eine solche große Begegnung: straighter Bop mit Phil Woods und Bobby Watson, Balladen mit Toots Thielemans und Kenny Barron, Old-Time-Swing mit Clark Terry und Harry Edison, Sängerwettbewerbe mit Joe Williams und Germaine Bazzle. Eine Kette von Highlights, die Solisten geben ihr Bestes, und am Ende scheint Ms. Reeves schon auf der Thronlehne zu schaukeln, als wäre es das Einfachste von der Welt. Grandios! - Kuriosität am Rande: Bei soviel geballter schwarzer Bop-Scat-Power (Reeves, Bazzle, Terry, James Moody) ist ein Stück wie Charlie Venturas schneeweißes Hybrid "Ha!" eine mehr als obskure Wahl. Hinter Mitautor "H. Mussulini" (sic!) versteckt sich übrigens kein Diktatoren-Sprößling, sondern der Saxophonist Boots Mussulli.

Melvin Rhyne
Mel's Spell (Criss Cross)

Was Coltrane für McCoy Tyner war, das war Wes Montgomery für Melvin Rhyne. Der angebliche Gitarren-Vater des Acid Jazz ist daher auf jeder neuen Rhyne-CD im Geiste anwesend und schickt einen Song vorbei - diesmal waren es sogar zwei. Nur hin und wieder kriegt der Hammond-Mann die alten Grooves satt und zeigt, daß in ihm ein echt komplizierter Modern-Jazzer steckt: Dann wird's schnell, abstrakt und abenteuerlich. Nicht umsonst spielte der 60jährige schon früher manchmal lieber mit dem schrägen Roland Kirk als in diesen verräucherten Dance-Clubs, wo alle verrückt nach der Hammond waren. Rhynes Balladen allerdings leiden schwer unter dem Verzicht auf den populären Beat: "I'm old-fashioned", scheint da jede zittrig zu flüstern und läßt an die wimmernden Kino-Orgeln denken, denen Jimmy Smith einst den Garaus machte. Hau lieber Rhyne, Mann!

Marc Ribot
Don't Blame Me (DIW)

Ich weiß, ich weiß: Über Marc Ribot darf man nichts Schlechtes schreiben. Denn wer außer ihm könnte zugleich so virtuos, so sanft, so witzig und so hintersinnig einen Jazz-Standard kaputtspielen? Diese bluesige, noisige Solo-Klampfe streut puren Balsam ins wunde Gemüt kritischer Intellektueller. Hier ist Trost für die aufgeweckten Redakteurinnen, die über die Zerrissenheit der Gesellschaft grübeln. Bestätigung für jene Hipsters, die sich in schräge Intelligenz flüchten. Analyse für die Liebeskranken. Ribot klampft uns das kaputte Weltbild der stillen, resignierten Stunden im Leben der westlichen Avantgarde. Ein Joe Pass mit bösem Biß. Ein Billy Jenkins mit Seele. Nein, wirklich: Man sollte nichts Schlechtes über ihn schreiben. Irgendwann kommt der Tag, an dem auch ich Marc Ribot brauche.

Romano/Benita/Fresu/Ferris
Palatino (Label Bleu)

Aldo Romano ist nicht nur Schlagzeuger, sondern ein Visionär, ohne dessen Konzepte die Musik eines Enrico Rava und Louis Sclavis anders klänge. Ob er der wahre Kopf des Quartetts "Palatino" ist, lasse ich dahingestellt: Gleichberechtigt geben sich die vier Musiker, jeder von ihnen seit langem ein Geheimtip. Jeweils zwei Stücke steuerten alle bei, dazu kommen zwei Standards von so unterschiedlichen Komponisten wie Harry Warren und Frank Zappa. Das Ergebnis: eine kühl gehaltene, streng konturierte, romanisch verspielte, rhythmisch forcierte, zeitlose Ästhetik. Der Vergleich mit dem einst identisch instrumentierten Quartett von Enrico Rava und Roswell Rudd (natürlich mit Romano) schadet "Palatino" nicht. Rava/Rudd (1978) gehörte immer zu meinen Lieblingsplatten.

Rova
The Works, Vol.1 (Black Saint)
+
Reedstorm Saxophone Quartet
(Acoustic Music)
+
The Munich Saxophone Family
Balanced (Edition Collage)
+
Sax Appeal + Claudio Fasoli
Giotto (Soul Note)

Innerhalb der Saxophonquartett-Welle vertritt Rova die ambitiöse, zur E-Musik schielende Fraktion. Das betont auch der Titel ihrer neuen CD: Die darauf zu hörenden drei "Werke" gehören zu den zahlreichen seriösen Auftragsarbeiten, die für Rova entstanden sind. Zwischen je einer gewaltigen Avantgarde-Komposition von Rova-Chef Larry Ochs und Free-Jazz-Legende John Carter bietet Jack DeJohnettes "Suite For A Better World" eine besondere öberraschung: Selten wurde so individuell und (im besten Sinne) naiv für vier Saxophone gedichtet. Das deutsche Quartett "Reedstorm" eifert einem anderen US-Ensemble nach, dem 29th Street Saxophone Quartet, deren Anchorman Jim Hartog im Booklet artig grüßt. Solistisch mögen die Vorbilder noch einiges voraus haben, aber wie man funky Riffs spielt, wissen die Berliner genauso gut. Ein beachtliches Debüt! Weniger reißerisch kommt die zweite CD der Munich Saxophone Family daher, die sich mehr um Homogenität und sauberes Harmoniespiel bemüht als um neutönerische oder rhythmische Effekte. Dank Thomas Zollers eigenwilliger Art zu komponieren schlägt sich die virtuose "Family" jedoch ihre eigene Schneise im bunten Saxophonquartett-Dschungel. Farbig mögen es auch die vier jungen Italiener von Sax Appeal, die sich durch den Veteranen Claudio Fasoli zum Saxophonquintett aufstockten. Ihre Stücke handeln von Farbtönen, und da dürfen Titel wie "Blue In Green" (Evans) und "Self-Portrait In Three Colors" (Mingus) natürlich nicht fehlen. Bei der fünfstimmigen Tonmalerei kamen allerdings das südländische Herz und Temperament etwas zu kurz.

S

Sax Appeal
siehe: Rova

SaxEmble
siehe: James Carter

Volker Schlott
siehe: Florian Poser

Louis Sclavis Trio
Ceux Qui Veillent La Nuit (Label Bleu)

Da gibt es also immer noch Gefühlslandschaften, die der Ami-Jazz nie auch nur betreten hat. Bassist Bruno Chevillon und Drummer Franáois Merville begleiten Sclavis diesmal auf einer Abenteuerreise durch klaffende Schluchten, farbige Hänge und strudelnde Wasser musikalischer Emotion. Eine nervöse Modern-Jazz-Phrasierung verbündet sich mit kammermusikalischer Disziplin, und Folklore-Einflüsse von der Normandie bis Arabien heben die Kompositionen in einen ahistorischen, postmodernen Begegnungsraum. Was Sclavis auf Klarinette, Baßklarinette und Sopransaxophon spielt, ist nicht zwischen Mais- und Baumwollfeldern gewachsen, erzählt aber dennoch eine Story mit Swing und Drive. Und eines wird klar: Nicht nur das Entertainment gewinnt durch Groove, sondern auch die große Kunst.

Warren Smith
& The Composer's Workshop Ensemble (Claves)

Immer wenn es um neue Orchestersounds ging und ein Perkussionist benötigt wurde, war Warren Smith der richtige Mann. Er spielte in den großen Ensembles von Braxton, Mingus, Gil Evans und George Russell. Und natürlich hatte er auch noch seine eigene Band, in der er seit 1960 mit ein paar Freunden aktuelle Ideen erprobte. Dieses Composer's Workshop Ensemble erinnert im Namen an diverse gefürchtete Free-Jazz-Fraktionen, hat seine Wurzeln aber im progressiven Cool Jazz. Die ersten Aufnahmen innerhalb dieser 2-CD-Werkschau (1968-1982) weisen ganz in die Richtung von Miles' Capitol Band, und mit Julius Watkins spielte sogar der beste Waldhorn-Bopper aller Zeiten im Bläsersatz. In den 70er Jahren verlor man im Sog des Zeitgeists zwar ein wenig an individuellem Profil, hielt aber doch noch einigermaßen die Linie. Dem Vernehmen nach ist das Ensemble noch immer auf Kurs.

Jim Snidero Quintet
Vertigo
+
Seamus Blake
The Bloomdaddies (beide: Criss Cross)

Criss-Cross-Philosophie pur: Jim Snidero gehört seit langem zu den besten Neobop-Altisten weltweit. Wäre er zehn Jahre später gekommen, hätte ihn irgendein Major womöglich zum Star eines neuen Jazz-Booms hochgepusht. So bleibt ihm nur der tägliche Enthusiasmus der Klubbesucher und die ewige Spielwiese des Mainstream-Jazz: nicht schlecht, aber nicht neu. Neues versucht dagegen der Kanadier Seamus Blake: Zwei Tenoristen, E-Baß und zwei Schlagzeuger machen Hardcore-Jazz im Keller- und Garagensound! Aus den seltsam zerklüfteten, heimatlosen Themen, den elektronischen Verzerrungen, die E-Gitarren und E-Violinen beschwören, und dem mörderischen Doppel-Groove der Trommelmänner weht hier ein völlig ungewohnter, bissiger Wind ins Criss Cross-Stübchen. Das andere, wirkliche New York.

T

Norris Turney
siehe: Pete Yellin

V

Various Artists
Kansas City (Original Soundtrack) (Verve)

Die Musikeranekdoten aus dem Kansas City der 30er Jahre sind Jazz-Geschichte geworden und haben sogar Romane inspiriert. Nun kommt der Film zur Legende: ein Krimi aus der Pendergast-éra, als Gangster und Depression die Stadt regierten. Robert Altman führte Regie, Hal Willner produzierte die Musik, Butch Morris leitete das Ensemble, und es könnte gut sein, daß der Jazz der Handlung die Schau stiehlt. Alles dafür Erforderliche ist getan: Die besten Musiker von heute spielen die beste Musik von damals. Joshua Redman, James Carter, Craig Handy, David Murray, Kevin Mahogany, Cyrus Chestnut, Nicholas Payton, Geri Allen, Don Byron, Chris McBride, Victor Lewis und viele andere erwecken die Welt von Lester Young und Ben Webster zu neuem Leben. Jene "roots", die die Jungen sonst so produktiv ins Moderne übersetzen, treten dabei plötzlich plastisch in den Vordergrund: ein augenzwinkerndes Lavieren zwischen den Epochen, heiteres Entertainment für ein intelligentes Jazzpublikum - wie einst in KC. Ich freue mich auf den Film.

Vienna Art Orchestra
Plays For Jean Cocteau (Amadeo)

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern der Donaumetropole: Das Vienna Art Orchestra ist längst nicht mehr die innovative Speerspitze der europäischen Avantgarde, sondern auf dem direkten Weg zu einer drögen Kultur-Institution. Davon erzählte schon das zähe "European Songbook", und auch die neue CD hängt sich an ein Heiligtum europäischer Kunstgeschichte an, Jean Cocteaus Film "La Belle et la Bête". Die traumartige Performance-Mischung aus Dada, Symbolismus und Moderne, ausgeführt von einem Schauspieler (on stage), einer Sprecherin (the beauty) und einer Tuba (the beast), ist auf einer Audio-CD schlecht zu vermitteln. Rüeggs Zwischenmusiken hingegen, zehn Stücke zwischen 3 und 8 Minuten Länge, werden da plötzlich zur Hauptsache und zur großen Überraschung: So geniale Momente und eigenwillige Stimmverflechtungen waren seit den großen VAO-Tagen von "Concerto Piccolo" und "Suite For The Green Eighties" kaum mehr zu hören. Gibt es noch Hoffnung für Wiens Vorzeige-Jazzer?

W

Bobby Watson
Urban Renewal (Kokopelli)

Wenn Herbie Mann ein neues Label startet, darf man getrost kommerzielles Kalkül voraussetzen. Kein Wunder also, daß Bobby Watson, der vor lauter technischem Können nie so recht weiß, wohin damit, unter Herbie Manns Fittichen beschließt, mal wieder etwas Neues zu versuchen. Das ist nicht HipHop, nicht Funk und nicht Fusion, aber von allem ein bißchen. Ziemlich grobe Beigaben von elektrischen Keyboards, Perkussion und E-Gitarre sowie ein Victor Lewis, der auf Pop-Drummer macht, prägen die Musik. Watson, schon immer effektbewußt, übertreibt es manchmal mit seinen Glissandi. Nun ja: Die große Herausforderung für den Altsax-Zampano war's auch diesmal nicht.

Y

Pete Yellin & His All Star Group
It's You Or No One (Mons)
+
Norris Turney Quartet
Big, Sweet 'n Blue (Mapleshade)

Immer nur Big Band spielen? Das kann's doch wohl nicht sein, sagte sich Altsaxophonist Pete Yellin, Satzführer der Mintzer-Band, und ging mit prominenten Mitstreitern ins Studio. Der Yellin-Ton prägt sich ein, nomen est omen: So massiv, hart und gepreßt hört man das Altsax allenfalls bei Arthur Blythe oder Jackie McLean. Doch Mitspieler vom Kaliber eines Stephen Scott, Nicholas Payton und Bob Mintzer kann man mit einem zehrenden Cry allein nicht beeindrucken oder an die Wand spielen: Ganz locker geben sie den Ball zurück und bleiben Sieger. Warm und glänzend klingt dagegen Norris Turneys Alt, nur verfügt der 75jährige eben kaum mehr über Nuancierungen. Der Ellington-Veteran, Kollege und Nachfolger von Johnny Hodges, wird vom klassischen Cannonball-Trio begleitet: Larry Willis, Walter Booker, Jimmy Cobb. Leider läßt die Aufnahme zu wünschen übrig, das Klavier ist zu leise, Hi-Hat und Cymbal zu laut. Es hätte ein schönes Dokument werden können.

Z

Patrick Zimmerli
siehe:Andy Laster

John Zorn / Masada
Hei (DIW)
+
John Zorn
Filmworks II (Toy Factory)

Abracadabra, hier ist Masada. Es ist in eineinhalb Jahren schon die fünfte CD des Quartetts, die John Zorn aus dem jüdischen Hut zaubert (die vierte ist bislang nur in Japan zu kriegen). Der Spaß sei ihm gegönnt: Da niemand vor ihm auf die Idee kam, in orientalischen Skalen echten Jazz zu spielen, so soll er seinen Einfall ruhig noch eine Weile auskosten. "Jazz goes Jewish" entwickelt sich zuhörends zur Universalsprache, selbst dumpfe Soul-Jazz-Gesten finden darin schon Platz, und irgendwann wird dieses Quartett so unvorhersagbar spielen wie einst Naked City. Eine der besten Bands auf der Szene ist Masada heute schon. Von einer anderen vertrauten Seite präsentiert sich Zorn mit einer neuen Filmmusik: als der unnachahmliche Regisseur szenischer Klänge. Die 36 Stückchen seines Werks bilden ein Ganzes in Sound und Ausdruck, eine oft alptraumhafte, spezifische Klangfarbenwelt, geprägt von klassischer Harfe, Südstaaten-Banjo, australischem Didgeridoo und brasilianischer Perkussion. Wieder einmal beweist Zorn seine Meisterschaft in der klanglich evozierten Vision. Avantgardistisches Musikkino.

John Zorn
Filmworks III (Toy Factory)

Filmmusik der neunziger Jahre. Aus der Arbeit für den Krimi "Thieves" entstand das Quartett Masada: Zorn, Douglas, Cohen und Baron wandeln hier noch zwölf Klangszenen lang auf den Spuren von Miles' "Fahrstuhl zum Schafott", psychologisch-dramatisch unterkühlt. Eine Premiere: JZ am Klavier. Dann: 9 Miniaturen in dreieinhalb Minuten, Vorstudien für den Zeichentrick-Elefanten Tsunta. Bill Frisell am Banjo, elefantastische Effekte. Nur mit Marc Ribots Gitarre flirtete Zorns Altsaxophon für einen Film über ein Hotel auf Taiwan: ein geniales Wechselbad zwischen Blues und Noise. Den größten Brocken des Samplers bilden TV-Commercials. Die beworbenen Produkte sind nicht genannt, die Phantasie darf blühen. Sekundenlange Kompositionen aus Farben, Stilen, Tempi. Mit Seele und Witz und bewährten Ausführenden wie Marc Ribot, Arto Lindsay, Bill Laswell, Robert Quine, Carol Emanuel, Guy Klucevsek. Zorn at his very best.

John Zorn
siehe auch: Erik Friedlander

John Zorn
Bar Kokhba
Filmworks V - Tears of Ecstasy
Filmworks VI – 1996 (alle: Tzadik)
Masada 7 (DIW)

Es gibt verschiedene Techniken, das Verstreichen der Zeit zu dokumentieren. Manche Leute führen Tagebuch, andere kleben Fotoalben, wieder andere sammeln Jazz-Magazine. John Zorn hat seine eigene Methode: Er nimmt CDs auf. Speziell die Zeit vom 1. März bis 16. Juli 1996 hat er durch Studioaufnahmen ziemlich komplett nachvollziehbar gemacht. Den Rahmen bilden die saitenlastigen Miniaturen für einen Experimentalfilm über Pawlows Experimente sowie vier ironisch-bluesige Nummern für einen Spielfilm - zu hören auf "Film Works VI". Hier kann man gleichsam die Schnitt-Frequenz der Filme nachvollziehen und ist damit ganz nah an der dramaturgischen Quelle aller Zorn-Musik. Auch die Doppel-CD "Bar Kokhba" wurde von einem Film inspiriert - "Die Kunst des Erinnerns" über Simon Wiesenthal. Das erweiterte Masada-Konzept (mit Klavier, Streichern, Gitarre, Klarinetten in wechselnden kleinen Gruppen) krönt vorläufig Zorns größenwahnsinniges Unternehmen, alle Jazz-Formeln auf jüdische Skalen zu transferieren. Obwohl auf "Bar Kokhba" auch psychedelische Zorn-Töne ins Spiel kommen, hat sich am Konzept des Quartetts Masada wenig geändert, wie "Zayin" (Sieben) beweist: kurzweilige Jewish Moods von nostalgisch bis frei. Die "Film Works V", schon 1995 entstanden, verwöhnen uns schließlich mit 48 gitarristischen Miniaturen in der von Naked City bekannten Bandbreite zwischen Südsee und Schwermetall. Bleibt noch anzumerken, daß Zorn im September 96 schon wieder im Studio war: Sein Drummer Kenny Wollesen sollte ein paar Tracks auf "Bar Kokhba" nochmals überarbeiten. Das Meisterwerk in erster Version ist also bereits heute ein Sammlerstück. Aber auf eine Zorn-Variante mehr oder weniger kommt es ja nicht an.

Noch mehr Rezensionen:

Hörhilfen (2007)

Album der Woche (2008)

© 1996, 2011 Hans-Jürgen Schaal


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